FAZ.NET-Frühkritik: Maybrit Illner : Kommunismus oder Naturalwirtschaft?
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Anarchist und Occupy-Aktivist: Der Amerikaner David Graeber Bild: Fricke, Helmut
Bei Maybrit Illner war am Donnerstagabend mit David Graeber ein Anarchist zu Gast. Etwas Besseres konnte der Sendung nicht passieren.
Ob sich Gesine Lötzsch am Donnerstagabend verwundert die Augen gerieben hat? Die vor kurzem zurückgetretene Bundesvorsitzende der Linken hatte im Januar 2011 in der „Junge Welt“ einen Aufsatz über „Wege zum Kommunismus“ geschrieben. Er hatte ihr politisch schwer geschadet. Die Partei des nun erst gar nicht als ihr Nachfolger kandidierenden Oskar Lafontaine geriet in eine Debatte über ihre Vergangenheit: Mit Hinweisen auf Stalin, den Gulag, die Stasi und den Mauerbau.
Maybrit Illner fragte ihren Studiogast, den Anthropologen und Bestsellerautor David Graeber, mit der größten Selbstverständlichkeit nach seiner Alternative zum Kapitalismus: „Kommunismus oder Naturalwirtschaft?“ Die Reaktion des bayerischen Finanzminister Markus Söder von der CSU? Immerhin war ja vom Kommunismus die Rede gewesen. Er lud den amerikanischen Anarchisten und Aktivisten der „Occupy Wallstreet“-Bewegung nach München ein. Keineswegs um ihn den Experten des Kollegen Innenminister zur Observation anzuvertrauen. Er will ihm den Freistaat Bayern als Alternative zu Anarchismus, Sozialismus und Kommunismus vorstellen. Dem Land mit ausgeglichenen Haushalten und Vollbeschäftigung. Wo ein Industrie-Facharbeiter tatsächlich noch mehr zu verlieren hat als seine Ketten. Das könnte unter anderem an der IG Metall liegen. Vielleicht will ihm das Söder vor Ort näher erläutern.
Der Mensch steht plötzlich im Mittelpunkt
Was ist eigentlich zwischen dem Januar 2011 und dem Mai 2012 passiert? Ein Anarchist in einer politischen Talk-Show gerät nicht in das Mahlwerk jener strategischen Diskurse, die buchstäblich alles so lange klein schreddern bis auch der letzte Inhalt zu Staub geworden ist. Er wird von der CSU – oder war es die bayerische Staatsregierung? - nach München eingeladen. Frau Lötzsch bekanntlich nicht. Dabei las sich das Thema der Sendung durchaus konventionell: „Alle pfeifen auf die Schulden. Wer hört noch auf die Kanzlerin?“ Nun ist David Graeber in kurzer Zeit in Deutschland zum Star geworden. Jeder will ihn bei seinem Deutschland-Besuch interviewen. Sein Buch über 5.000 Jahre Schulden ist ein diffiziles Meisterwerk. Er stellt Schulden vom ökonomistischen Kopf auf die anthropologischen Füße. Der Mensch steht plötzlich im Mittelpunkt, nicht das Geld als das allgemeine Äquivalent, das ihn im Kapitalismus beherrscht. Man wäre gerne dabei gewesen, wie sich die drei bekannten Gesichter des Talk-Show-Betriebes auf diese Sendung vorbereitet haben. Außer Söder noch sein Berufspolitiker-Kollege von den Grünen, Jürgen Trittin, sowie der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Dresdner Bank, Herbert Walter. Schließlich ist ein Anarchist im deutschen Fernsehen bisher eine rare Erscheinung gewesen. Walter hatte Graebers Buch wohl gelesen, sogar eine Veranstaltung mit ihm besucht. Trittin dagegen war autobiographisch bestens gerüstet. Frau Illner war zwar diskret als sie vom Trittin „vor 30 Jahren“ sprach. Aber der „KB (Kommunistische Bund) Nord“ gehörte zur undogmatischen Neuen Linken, die mit den leninistischen Parteistrukturen wenig am Hut hatten, die ansonsten damals in Mode waren. Bei Söder bemerkte man dagegen, wie er nur darauf gewartet hatte, Graeber mit seiner Charme-Offensive zu beglücken.