Familienland Italien : Zu heilig für Geburten
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Als Kind in Italien aufwachsen - das muß das Paradies auf Erden sein. Nirgendwo sonst in Europa dreht sich der Alltag so sehr um das Wohlergehen der Kinder wie in Italien. Hier sitzen die Kleinen selbstverständlich bis spätabends mit am Tisch, und wenn sie herumtollen und schreien, stoßen sie dabei auf vollstes Verständnis der milde lächelnden Anwesenden. "Bambini" - am besten mehrere - verschaffen einer Mutter wie durch Geisterhand Platz im vollen Bus, sie dominieren laut und anarchisch die Straße, das Familienleben und die Freizeitgewohnheiten, zuvörderst das sommerliche Strandritual.
Sogar das neue, höchst erfolgreiche Antinikotingesetz verschärft die Geldstrafen, sobald ein Kind beim unerlaubten Rauchen zugegen ist. Der einzige Haken - es gibt kaum noch Kinder in Italien. In den neunziger Jahren lagen die Italiener am Ende von Europas Geburtenziffer, und wenn sich die Situation auch seit der Jahrtausendwende leicht gebessert hat, so kann die mickrige Reproduktionsrate von 0,61 Prozent eine massive Vergreisung und Verringerung der Bevölkerung nicht mehr aufhalten.
Bis in die achtziger Jahre ein Auswanderungsland
Der Befund wirkt in der Tat befremdlich. Denn gerade die katholische Kirche - in Italien ist sie trotz fehlender Selbstreproduktion allgegenwärtig - versteht sich von jeher als Sachwalterin von Familie und Mutterschaft und konnte bis in die siebziger Jahre, teilweise bis heute die Familiengesetzgebung massiv beeinflussen. Wenn also in einem Land offensichtlicher Kinderliebe und mächtiger Familienideologie nur mehr wenige Kinder in die Welt gesetzt werden, muß etwas fundamental im argen liegen.
Das im Ausland bewunderte Ideal der zusammenhaltenden Großfamilie ist ein Relikt der armen Agrarzeit, die in Italien länger dauerte als in den anderen europäischen Kernstaaten. Als Sippe halfen und helfen sich Italiener über Wirtschaftskrisen hinweg, als Sippe verschafften sie sich - vor allem im Süden - ihr Recht, als Sippe hielten sie an Brauchtum und Küche fest, und als Sippe brachten sie derartig viele Kinder groß, daß Italien bis in die achtziger Jahre ein Auswanderungsland blieb.
Die Kinderliebe wegmodernisiert
Die Modernisierung der italienischen Gesellschaft, die mit Industriearbeitertum, Migration in die Großstädte, wachsendem Mittelstand und Mobilität einherging, hat dann irgendwann die Kinderliebe der Italiener kleingekriegt. Die antimoderne Verteidigungslinie zugunsten der Familie war dabei stets deutlich. Alle Zeitzeugen erinnern sich noch gut an die ideologischen Kämpfe für und wider Scheidung und Abtreibung, die vor dreißig Jahren zu manchem familiären Zerwürfnis führte. Und für die Verfechter einer katholischen Familienpolitik liegt in der Legalisierung von Scheidung und Abtreibung, bei Verhütung und sexueller Revolution die Erbsünde, deren Genuß folgerichtig mit fehlenden Babys bestraft wurde.
Die Soziologie, die sich mit prominenten Vertretern wie Chiara Saraceno und Marzio Barbagli, rastlos und doch oft ratlos den radikalen Fährnissen der italienischen Familie zuwendet, deutet indes die Entwicklung genau umgekehrt: Nicht zu viele, sondern zuwenig Rechte für Eltern haben den demographischen Kollaps der Italiener bewirkt. Bis 1978 konnte eine arbeitende Mutter noch nicht einmal ihre Sozialleistungen oder Rentenansprüche für ihre Kinder nutzen. Alles war zugeschnitten auf das Ideal des arbeitenden Familienvaters, bei dem die ganze Unterstützung ankam und der sie solidarisch an Frau und Kinder weitergab. Diese patriarchalische Rechtlosigkeit, die in Details noch immer fortbesteht, stieß sich immer mehr an der Wirklichkeit emanzipierter Frauen, arbeitender Mütter, getrennter Paare oder gar von Alleinerziehenden.