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Wie erkläre ich es meinem Kind? : Warum Papa beim Fußball rumschreien darf

Brüllende, fahnenschwenkende Menschen mit Farbe im Gesicht: So etwas kann nur der Fußball hervorbringen. Bild: dpa

Warum drehen die Großen beim Fußball durch? Und wie erklären wir das unseren Kindern? Die Professoren Durkheim und Luhmann wissen Rat. Es kann nützlich sein, ihn noch vor dem WM-Finale zu beherzigen.

          3 Min.

          Warum die Erwachsenen beim Fußball ausflippen, ist ein großes Rätsel. Denn zum einen hört man von ihnen ja das ganze Jahr über Sätze wie „Schrei nicht so rum“, „Man muss auch verlieren können“, „Sei nicht kindisch“ und „Lies doch mal ein Buch“. Außerdem sagen sie manchmal allen Ernstes, Fußball sei die schönste Nebensache der Welt, aber wenn sie den Schiedsrichter eine dumme Sau nennen, klingt das echt nicht nach Nebensache.

          Jürgen Kaube
          Herausgeber.

          Zum anderen drehen sie auch bei Spielen durch, in denen überhaupt nichts los ist, Vereinigte Staaten gegen Deutschland und so. Wenn man genau hinschaut, ist ja überhaupt ziemlich oft fast nichts los. Die Holländer und die Argentinier im Publikum brüllten, sangen, weinten und schimpften – aber auf dem Rasen war das alles so spannend wie Wattwandern.

          Bild: Johannes Thielen

          Am Spielverlauf selbst kann das Ausflippen also nicht liegen. Man muss darum ganz schön nachdenken, um drauf zu kommen, warum manche sich beim Fußball so komisch benehmen. Eigentlich gibt es drei Erklärungen. Die erste stammt von einem deutschen Professor, der lange in England gelebt hat und Norbert Elias hieß.

          1. Kanalisiertes Saurauslassen

          Der hat sich die Sportbegeisterung, die ihm dort begegnete, so zusammengereimt: Die meisten Leute sitzen den ganzen Tag in Bürokleidung herum, und entweder telefonieren sie oder füllen Excel-Tabellen aus. (Als der Professor seine Theorie aufstellte, gab es noch keine Computer, aber damals waren es halt Aktenordner, in die sie etwas hineinordneten.) Oder sie arbeiten an Maschinen, die ihnen den Takt vorgeben. Alles ziemlich diszipliniert. Die Leute müssen im Alltag auch dauernd höflich sein, weil sie etwas voneinander wollen.

          Sie müssen also die Sau ziemlich weit drinnen lassen. Selbst im Straßenverkehr, wo die Sau morgens und abends rauskommt, ist das nicht erlaubt und auch gefährlich. Nur am Wochenende im Stadion und vor dem Fernseher, da darf man sie nicht bloß rauslassen, da haben sie sich sogar verabredet, dass man die Sau rauslassen soll. Dafür werden extra Leute angestellt, die ihrerseits die Sau rauslassen, auf den Rasen spucken, einander treten, anschreien und am Trikot reißen. Das sind die Sportler. Und über deren Saurauslassen geraten die Zuschauer in ihren bunten Hemden ihrerseits in die erwünschte Erregung.

          2. Zwanzig Millionen Experten

          Die zweite Erklärung geht so ähnlich. Sie ist noch älter und stammt von einem Franzosen, dem Professor Durkheim aus Bordeaux. Dem ist aufgefallen, dass in unserer Gesellschaft nicht nur auf der Arbeit jeder etwas anderes macht. Auch sonst ist jeder ein Spezialist für irgendetwas, von dem alle anderen keine Ahnung haben. Sogar bei den meisten Hobbys ist das so. Die einen haben das Steak gern blutig, die anderen backen vegan, sie haben verschiedene Religionen oder gar keine, sie wählen ein Dutzend verschiedene Parteien oder gar nicht.

          Und was hat das mit dem Ausflippen beim Fußball zu tun? Na, sie flippen eben darüber aus, dass sie dort alle etwas gemeinsam sehen, etwas, von dem sie glauben, es zu verstehen, etwas, das keinen Zweck hat, über den man nachdenken muss oder streiten kann und bei dem jedenfalls die Hälfte von ihnen für dieselbe Seite ist. Man nennt das ein Gemeinschaftserlebnis. Es gibt für große Gruppen zum Glück nicht mehr so viele davon.

          3. Der unverrückbare König Fußball

          Zum Schluss noch eine dritte Theorie. Die hat sich ein Professor ausgedacht, der sich eigentlich kein bisschen für Fußball interessierte, was man verstehen kann, wenn man weiß, dass er in Bielefeld lebte. Dem ist aufgefallen, dass in unserer Welt einerseits alles ganz leicht geht. Im Handumdrehen werden ein paar Milliarden von einem Konto aufs andere gebucht. Dauernd wechselt die Mode, dauernd ändert sich die Weltlage, dauernd wechseln die Leute ihren Aufenthaltsort.

          Dieser ganze dauernde und schnelle Wandel, die ständige Mobilität bringen die Sehnsucht nach etwas Echtem, Unverrückbarem und Schwerem hervor. Also entdecken die Leute ihre Wurzeln, kommen sich „deutsch“ oder „französisch“ vor, reden von Heimat und Identität. Sie möchten sich leicht und schwer fühlen.

          Darum, so Professor Luhmann aus Bielefeld, lieben sie den Fußball so. Weil der beides ist: leicht und schwer, Abstieg und Aufstieg, Flug und Sturz, Kopfball und Bodenkampf. Und weil das für die Erwachsenen eigentlich unfassbar ist, dass ein und dieselbe Sache, so wie sie selbst, zugleich leicht und schwer sein kann, dass im Spiel dauernd alles möglich ist und sich alles ändert und die Deutschen am Ende trotzdem gewinnen, darum flippen die Erwachsenen beim Fußball so aus.

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