Wie erkläre ich’s meinem Kind? : Warum Menschen für die Freiheit auf die Straße gehen
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Angst und Entschlossenheit: Demonstranten Anfang Oktober in Hongkong Bild: AFP
Vor ein paar Wochen in Hongkong, vor Jahren in Nordafrika, vor einem Vierteljahrhundert auch bei uns sind Menschen für ihre Freiheit auf die Straße gegangen. Was daran so wichtig ist? Ein Gedankenspiel.
Leuten wie uns, die seit Jahrzehnten in einem freien Land leben, mag die Frage, warum Menschen für Freiheit auf die Straße gehen, überflüssig erscheinen. Doch es genügt schon, einen Blick über die Landesgrenzen zu werfen, um zu verstehen, warum dieser Eindruck täuscht. Vielleicht ist es, um die Sache richtig zu verstehen, sogar notwendig, Europa zu verlassen, denn Freiheit ist ja eine Grundlage des Lebens nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. Jedenfalls hilft es, sich auf Reisen zu begeben – sei es durch den Raum oder durch die Zeit.
Vor ein paar Jahren haben wir beobachtet, wie sich die Tunesier, dann die Ägypter, die Libyer und die Syrer erhoben und für mehr Freiheit demonstrierten. Oft waren es blutige Kämpfe, viele Menschen starben. Erst im September dieses Jahres haben wir auch verfolgt, wie in den Straßen von Hongkong Tausende für eine besondere Form der Freiheit, nämlich die Wahlfreiheit, demonstrierten. Und vor fünfundzwanzig Jahren – daran wird dieser Tage in Deutschland allerorten erinnert – haben in der DDR die Bürger Reisefreiheit gefordert, aber natürlich auch, endlich sagen zu dürfen, was sie denken, wählen zu dürfen, wen sie für richtig halten, einkaufen zu dürfen, was sie wollen (und können), eigene Entscheidungen treffen zu dürfen, und zwar in allem, was das Leben eines Menschen ausmacht.
Sich vorzustellen, wie weit Einschränkungen wie jene gehen, unter denen auch viele DDR-Bürger gelitten haben, ist bestimmt ein guter Weg, um die Frage nach der Bedeutung von Freiheit zu beantworten. Wie würden wir es finden, wenn wir bestimmte Sender im Fernsehen nur heimlich schauen dürften? Wenn wir die Musik von manchen Bands nur leise hören könnten? Wenn es eine Liste mit Ländern gäbe, in die man reisen dürfte, und eine andere mit solchen, die man nie zu sehen bekäme? Wenn man wüsste, dass man Kritik an dem Land, in dem man lebt, nur hinter vorgehaltener Hand und nur gegenüber absolut vertrauenswürdigen Personen äußern könnte – und dass man selbst dann nicht vor Repressalien sicher wäre? Kurzum: Wie würde man es finden, wäre man gezwungen, sein tägliches Leben nach Ver- und Geboten zu richten, die weit über das hinausgehen, was Ver- und Gebote normalerweise tun sollen – nämlich das friedliche Zusammenleben von Bürgern eines Staates sichern?
Ein Dach und kein Hunger ist nicht genug
Hinzu kommt, dass Länder, welche die Freiheit ihrer Bürger einschränken, nur selten (also nie, außer vielleicht im Fall von Nordkorea) so abgeschirmt leben, dass ihre Bürger nicht in der Lage wären, ihre Situation mit der in anderen Ländern zu vergleichen. Die Kluft zwischen den Lebensumständen hier und dort aber erzeugt ein Gefühl von Ungerechtigkeit, auch von Ausgeliefertsein und Enttäuschung. Und wenn die zu stark wird und in Verzweiflung umschlägt, was bleibt dem Menschen dann? Vielleicht der Gang auf die Straße?
Natürlich könnte man auch sagen, dass sich der Mensch doch mit dem begnügen soll, was er hat – solange es ein Dach über dem Kopf und Essen in seinem Teller ist. Aber zum einen haben nicht alle Dächer über den Köpfen und Essen in ihren Tellern. Und zum anderen ist es doch fraglich, ob man dem Wesen des Menschen damit gerecht wird. Denn wie auch immer man dieses Wesen verstehen mag, ob aus einer religiösen Blickrichtung, über seine Gefühle oder die Gemeinschaft, in der er lebt: Vielleicht hilft es zunächst schon, sich selbst zu befragen, ob man sich freiwillig mit etwas zufriedengeben würde, wenn man weiß, dass man etwas Besseres haben könnte. Und wenn nicht, was wäre man bereit zu tun?