Übertritt ins Gymnasium : Tag der offenen Wunde
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Bonjour Tristesse: So sehen Schulen in Deutschland aus. Noch immer. Bild: Picture-Alliance
Die Schaubilder! Die Gerüche! Wer als Erwachsener erstmals wieder eine weiterführende Schule betritt, fühlt sich in seine Jugend zurück katapultiert – Fluchtreflexe inbegriffen. Eine Reise auf der Straße der Erinnerung.
„Willst du vom Odenwald zur Rhön, musst du durch den Spessart geh’n!“, steht in Comic Sans auf einem roten Zettel in einem Schaukasten. Der Zettel nebenan behauptet kühn: „Feldspat, Quarz und Glimmer, die drei vergess’ ich nimmer!“ Willkommen in der Schule, dem natürlichen Lebensraum grauenvoll gereimter Merksprüche. Im Zimmer nebenan verbrennt eine Religionslehrerin solche Unmengen von Weihrauch, dass eine fromme Ohnmacht als einziger Ausweg erscheint.
Aber es hilft nichts: Das Kind braucht eine Schule. Und weil weiterführende Schulen heute nicht mehr so hemdsärmelig ausgesucht werden wie noch vor zwei Generationen, fackeln sie bei Tagen der offenen Tür ein Feuerwerk der Präsentationskunst ab. Dutzende der eigenen Schüler hat das Gymnasium an diesem Samstag einbestellt, alle Lehrer sind sowieso im Einsatz. Zur Begrüßung singt der Unterstufenchor, dann tummeln sich die Eltern in den Klassenräumen und fragen die Lehrer aus. Auch ich sollte das tun. Aber es ist verblüffend: Plötzlich ist meine ganze Abneigung gegen die Schule wieder da.
Dabei kann ich mich nicht erinnern, besonders traumatisiert aus der Schulzeit hervorgegangen zu sein. Tatsächlich ging ich sogar ganz gern zur Schule – wenn auch eher aus Gründen der Geselligkeit. Der größte Störfaktor war meine stark einseitige Begabung, die dazu führte, dass ich mich in den Sprachen zu Tode langweilte und in Physik heillos überfordert war. Meine Zeugnisse waren trotzdem ganz gut. Zumindest im Mittel. Ich habe keine Geschichten zu erzählen von bösen Lehrern; ich wurde auch nicht gemobbt. Deshalb überrascht mich diese heftige Aversion selbst.
Wanderung zu den Waschräumen
Als der Geschichtslehrer erzählt, dass er chronologisch vorgeht und folglich bei der Steinzeit beginnt, möchte ich schreiend davon rennen. Stattdessen fixiere ich ein Schaubild über den Limes, als würde mich das brennend interessieren. „Der Obergermanisch-Rätische Limes (ORL) ist der bekannteste Limes neben dem Hadrianswall“, erfahre ich und trete den geordneten Rückzug in den Informatik-Raum an. Dort ist es großartig, denn Informatikunterricht gab es zu meiner Schulzeit noch nicht. Tatsächlich besaß meine Schule ein paar Computer, aber die waren offenbar so teuer, dass man uns pubertierende Zeitbomben von ihnen fern hielt. Anders hier: Die Spanischklasse baue gerade einen interaktiven Comic, erzählt der Lehrer.
Der Informatik-Raum befindet sich im dritten Stock des Altbaus. Von hier aus wird ein Manko der Schule ersichtlich: Wer zur Toilette muss, kann entweder in die Häuschen im Hof gehen oder im ersten Stock den Durchgang in den Neubau nehmen. Im Altbau gibt es keine Toiletten. Wo kommen wir da auch hin, wenn Schüler dort, wo sie unterrichtet werden, Toiletten vorfinden. Offenbar hat sich in diesem Punkt seit meiner Schulzeit wenig verändert: Ein Gang zur Toilette war schon damals der sicherste Weg, mindestens zehn Minuten Unterricht zu verpassen. Die Freude darüber war allerdings gering, wenn die Waschräume mal wieder nach Pumakäfig rochen. Auch olfaktorisch hat sich, wie ich mich nach einer Wanderschaft durch die Schule überzeugen kann, wenig verändert.