Phänomen Hochbegabung : Premium-Kinder für den Standort D
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Das Irritierende am bildungspolitischen Begabtendiskurs ist, dass man den Eindruck hat, als hinge das ökonomische Schicksal unseres Landes allein von außerordentlich Begabten ab. Aus Premium-Kindern sollen Höchstleister werden, Standortsicherer, die das Bruttosozialprodukt heben. Auch Nobelpreise sind hochwillkommen. Für kommerzielle Bildungsanbieter ist diese Verunsicherungsmaschinerie ein lukratives Geschäft und es floriert.
Die Erwartungen der Leistungsgesellschaft
„Deutschland hat keine Rohstoffe, wir haben nur Humankapital. Und wir sind Exportweltmeister. Damit das so bleibt, muss die deutsche Wirtschaft ihr Niveau halten. Dazu braucht es die Begabten.“ Die Sätze stammen von Brunhild Kurth, der Präsidentin der Kultusministerkonferenz, die von heute an in Berlin tagt und eine „Förderstrategie für leistungsstarke Schülerinnen und Schüler“ beschließen wird. Man fragt sich, wie diese Förderstrategie im Detail wohl aussieht, wenn von vornherein feststeht, was am Ende herauskommen soll. Individuelle Talentförderung klingt anders.
Nimmt man als Messlatte für das Label „Hochbegabung“ einen IQ von 130, sind etwa zwei Prozent der Bevölkerung hochbegabt. Und die restlichen achtundneunzig Prozent? „Wer heute kein Abitur und Hochschulstudium hat, gilt als kompletter Versager“, sagt Ahl. Keine Gesellschaft könne sich das leisten. „Es führt zudem zu fatalen Abwertungen von anderen Potentialen, sozialen, handwerklichen, künstlerischen.“ Wie gefährlich diese Vorstellung ist, zeigt die Förder- und Testhysterie der Mittelschicht, die auch das Ergebnis einer Leistungsgesellschaft ist, die ein gelingendes Leben in erster Linie am Erfolg misst.
Das Hochbegabten-Klischee
Kinder sind ein kostbares Gut. Hat man nur eines, spitzt sich die Sache zu, das spürt auch Ahl. Die Zahl überambitionierter Eltern, die hinter der Zappligkeit ihres Kindes und dessen mittelmäßigen Noten eine verkannte Hochbegabung vermuten, steigt, sie werden ja auch immer häufiger mit dem Thema konfrontiert. Ein Indiz: In dieser Zeitung zum Beispiel kam das Wort „Hochbegabung“ 1993 einundvierzigmal vor, im vergangenen Jahr viermal so häufig.
Das Bild, das medial von Hochbegabten verbreitet wird, sieht in etwa so aus: männlich, deutsch, Nerd, bebrillt, schlechte Frisur, Außenseiter. Sitzen Hochbegabte auf einem der Talkshow-Sofas, tragen sie vorzugsweise Hemd und Fliege. Medial unsichtbar sind Mädchen sowie Menschen mit Migrationshintergrund, was nichts über ihre tatsächliche Existenz besagt. Die mit Migrationshintergrund heißen höchstens Talente und dürfen für uns „tanzen, singen und Tore schießen“, sagt Ahl. Deutschland sucht den Superstar oder das nächste Topmodel, je nachdem.
Viele fallen durch das Raster
Was die Mädchen betrifft, ist das Kuriose ja, dass sie in unserem Bildungssystem zweifellos sehr erfolgreich sind. Stets ist davon die Rede, sie hätten die Jungs leistungstechnisch längst abgehängt, was sich an den Universitäten fortsetzt. „In der speziellen Begabtenförderung sind Mädchen erschreckend unterrepräsentiert. Ihr Anteil liegt im Schnitt der Maßnahmen nur bei fünfundzwanzig Prozent“, sagt Ahl. Wie er sich das erklärt? Er führt ihre soziale Anpassungs- und Empathiefähigkeit ins Feld, die auch mit Konditionierung zu tun habe, mit Rollenvorbildern.
Offenbar zahlen sich diese Eigenschaften in einer auf Optimierung getrimmten Gesellschaft nicht aus. „Mädchen verstecken ihre Begabung eher.“ Ihre sehr guten Leistungen erklärt man gemeinhin mit dem überdurchschnittlichen Fleiß von Mädchen, nicht mit Begabung. Es fallen also doch etliche Hochbegabte durchs Raster.
Die Testerei hört nie auf
Der aktuelle Titel des Magazins „Brand eins“ zeigt einen dicklichen jungen Mann mit Brille und Oberlippenbart. Darunter steht: „Coole Sau. Schwerpunkt Talent.“ Das talentierte Kind ist erwachsen geworden, jetzt muss es sich in einer Arbeitswelt behaupten, in der reibungsloses Funktionieren als Kernkompetenz gilt. Aber, fragt dort Gerhard Wohland vom Institut für dynamikrobuste Höchstleistung: „Kann das Assessment-Center tatsächlich Talente für das Unternehmen auswählen? Oder doch nur die Besten für das Assessment-Center?“
Die Testerei hört eben nie auf, womit wir wieder bei einem Intelligenzquotienten mit der magischen Zahl 130 wären und der Sehnsucht nach empirischer Absicherung – besonders bei Hochbegabten.