Aufmerksamkeitsstörung : ADHS, Lügen und andere Bestseller
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Wo sind die Alternativen zu Ritalin? Bild: dpa
Kann die Aufmerksamkeitsstörung reine Einbildung sein, wenn jeder dritte straffällige Jugendliche darunter leidet? Die Forschung ist weiter uneins, aber der Sündenfall hat einen Namen - Ritalin.
Die Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung ADHS kann ein schweres Schicksal sein - oder ein kleiner Makel. Wie die Diagnose, die unaufmerksame, impulsive und hyperaktive Kinder trifft, in eine zerstörte Biographie münden kann, haben inzwischen unzählige Studien nachgezeichnet. Belegt ist, dass ADHS Schulabbrüche, Substanzmissbrauch, die Entwicklung weiterer psychischer Störungen und Kriminalität nach sich ziehen kann. Dreißig Prozent der Inhaftierten in Jugendgefängnissen haben ADHS, ergibt eine im Fachmagazin „Psychological Medicine“ erschienene Untersuchung des Imperial College London.
Über die Fälle, in denen ADHS nur ein kleiner Makel ist, weiß man weniger; doch sie treiben Ärzte und Therapeuten zunehmend um. „Für uns stellt sich die Frage, wie sehr die ADHS-Diagnosen getriggert werden durch die Anforderungen, die wir an Kinder haben“, sagt etwa Manfred Döpfner, leitender Psychologe der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uniklinik Köln. Er nennt ein Beispiel: „Ein Kind mit einer leichten Unaufmerksamkeit und einer nicht ganz optimalen Intelligenz bekommt auf dem Gymnasium Probleme. Dürfen wir unsere pharmakologischen Hilfsmittel einsetzen, um dem Kind zu helfen, einen höheren Bildungsabschluss zu machen?“ In Richtung „Neuro-Enhancement“, so Döpfner, wollten sich die Behandler nicht bewegen. „Aber es gibt Übergangsbereiche. Und das sind Fragen, die die Gesellschaft als Ganzes betreffen. Damit können wir Kinder- und Jugendpsychiater nicht allein ins Kämmerlein gehen.“
Nur eine Fata Morgana?
Auch deshalb gründeten Mediziner und Therapeuten im Jahr 2006 das „Zentrale ADHS-Netz“, das sich zum Ziel gesetzt hat, die Versorgung von Betroffenen zu verbessern, aber auch, die Öffentlichkeit besser zu informieren. Vorausgegangen war die erste deutsche ADHS-Statuskonferenz im Jahr 2002. Vergangene Woche folgte die zweite, von Döpfner geleitete Konferenz dieser Art in Berlin; hier wurde also die Bilanz eines ganzen Jahrzehnts gezogen.
Nicht gelungen ist es in diesem Jahrzehnt, die generellen Zweifel an der Existenz der Störung auszuräumen. Ein Gutteil der Diskussionszeit widmeten die sechzig Ärzte, Therapeuten und Vertreter von Krankenkassen deshalb der Frage, warum ihr Forschungsthema noch immer in regelmäßigen Abständen als Fata Morgana verunglimpft wird, ja, schlimmer noch: als böswillige Erfindung von gewinnorientierten Pharmakonzernen.
Eine kurze Geschichte der Störung
„Warum wird nur bei ADHS bezweifelt, dass es sich wirklich um eine psychische Erkrankung handelt - bei Angststörungen oder Depressionen aber nicht?“, fragte Döpfner das Publikum. Michael Huss, Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitätsmedizin Mainz, vermutet die Ursache in der unheimlichen Kraft des Medikaments Methylphenidat (Handelsname Ritalin): „Mit Methylphenidat haben wir eine hochwirksame Substanz, die man ohne viel Erfahrung verordnen kann. Anschließend hat man sozusagen eine Wunderheilung. Die Eltern sind begeistert, die Lehrer überrascht.“ Die Kontroverse entstehe, weil man das Problem „technisch“ lösen könne. „Es geht um die Frage, welche Macht der Psychiater hat“, mutmaßte ein anderer Tagungsgast. „Eine Gesellschaft, die einen Leidensdruck hat, wird sich fragen: Wem geben wir die Macht, diesen Leidensdruck zu behandeln?“