Tagung über Literaturnobelpreis : Olympischer Herbst der Dichtung
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Das Handwerk einer Schriftstellerin: Die Nobelpreisträgerin Herta Müller mit dem Rohstoff ihrer Collagen-Texte auf der 66. Frankfurter Buchmesse. Bild: Ullstein
Keine Garantie auf den Ruhm, aber auch kein Schicksal: Eine Marbacher Tagung erkundet den Literaturnobelpreis.
Wer kennt „Au bord de l’eau“? Selbst in Frankreich ist das 1875 veröffentlichte Gedicht über die zeitlose Stimmung zweier Verliebter am Ufer eines Flusses kaum noch jemandem geläufig. So wenig wie sein Autor, Sully Prudhomme. Was nicht verwunderlich sein müsste, die meisten Gedichte kommen und gehen. Und sogar die meisten Lyriker. Doch Prudhomme, dessen zumeist sentimentale Verse einmal maliziös Häkeldeckchenlyrik genannt worden sind, war nicht irgendein Poet. Er war der erste Nobelpreisträger für Literatur.
Als die Schwedische Akademie 1901, Jahre nach Alfred Nobels testamentarischer Verfügung von 1885, endlich begann, den Preis zu verleihen, wählte sie also nicht Tolstoi, der gar nicht vorgeschlagen worden war, nicht Émile Zola oder den provenzalischen Lyriker Frédéric Mistral und auch nicht Malwida von Meysenbug, die alle unter den Nominierten waren, sondern eben einen warmherzigen französischen Poeten, den bald niemand mehr kannte.
Im Deutschen Literaturarchiv zu Marbach fand soeben eine dreitägige Konferenz statt, die der Erforschung des Nobelpreises, seiner Geschichte und seiner Wirkungen gewidmet war. Was auf den ersten Blick wie ein etwas spezielles Thema erscheint, führt auf den zweiten zu zentralen Fragen der Literatursoziologie. Denn der Nobelpreis hat sich als Weltereignis etablieren können. Er steht über allen anderen Zehntausenden Literaturpreisen, die jährlich verliehen werden. Es wird gewettet, aufgestöhnt und gestritten. Manche trauen ihm Kanonbildung zu, andere behandeln ihn wie das Ergebnis einer Art jährlicher Weltmeisterschaft im Schreiben.
Die Nachhaltigkeit der höchsten literarischen Ehrung
Dabei ist klar, wie unsinnig diese Vorstellung ist. Literatur ist kein Sport, sie enthält keine Leistung, die sich klar ermitteln ließe. Das Mitglied der Schwedischen Akademie Anders Olsson ließ während der digital durchgeführten Marbacher Tagung auch keinen Zweifel daran, dass die Nobelpreisträger nicht aus einem Wettbewerb hervorgehen. Es gibt keine Long- und Shortlists, keine Rangfolgen. Die Behauptung von Fabien Accominotti (Madison), der Preis sei von einem Glauben an Hierarchie getragen, ging insofern an ihm vorbei. Niemand wird meinen, Peter Handke sei einfach und klar ein besserer Autor als William Vollmann oder Annie Ernaux.
Was aber ist der Nobelpreis dann? Es wird nominiert, es werden,Olsson zufolge dabei auch ganz unsinnige Vorschläge gemacht, und es wird unter den verbleibenden zweihundert Namen verglichen. Das Komitee tritt wöchentlich zusammen. Lange suchte es nur unter den eingereichten Vorschlägen aus, inzwischen kann es selbst welche machen. Zum Einreichen berechtigt sind außerdem ehemalige Preisträger, Mitglieder anderer Akademien, Professoren für Literaturwissenschaft. Als Regel gilt, dass den Preis nur erhalten kann, wer zuvor mindestens einmal nominiert war. 1938 war der kleine Unfall mit Pearl Sydenstricker Buck passiert, die für ihre gutmütigen Romane über das chinesische Landleben ohne solche Qualifikation geehrt und nachträglich für keine glückliche Wahl gehalten wurde.
Andererseits garantieren, was Jacob Habinek (Linköping) anhand der einsehbaren Akten der Akademie ausgerechnet hat, Spitzenplätze beim Nominiertwerden nicht den Preis. Anders Olsson erwähnte in diesem Zusammenhang, dass James Joyce, Virginia Woolf und Joseph Conrad nicht einmal nominiert worden waren. Nachträgliches Bedauern begleitet mithin den Preis, den nur lebende Autoren bekommen können. Der Lyriker und Verleger vieler Nobelpreisträger Michael Krüger forderte in seinem Gespräch mit Olsson insofern zu Recht zu Forschungen über die Nachhaltigkeit der höchsten literarischen Ehrung auf. Anders formuliert: Über den Kanon im Sinne des immer noch vielfach Gelesenen entscheidet sie am Ende nicht, sie erhöht nur die Chancen, in ihn aufgenommen zu werden. Vor Vergessen schützt der Nobelpreis nicht: Wer liest heute noch Carl Spitteler, von Paul Heyse ganz zu schweigen?