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Harald Weinrich gestorben : Germanistisch-romanistische Doppelkultur

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Harald Weinrich Bild: ALBERTO CRISTOFARI/A3/CONTRASTO/laif

Er war ein Sprachgelehrter von europäischem Rang, der ein ganzes Fach aus der Taufe hob. Jetzt ist der Romanist Harald Weinrich im Alter von 94 Jahren gestorben.

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          Zu den bedauerlichen Umständen der überall eingeforderten Interdisziplinarität gehört, dass der Brückenschlag heute selten auf solidem einzelfachlichen Fundament erfolgt. Dass das einmal anders war, dafür konnte Harald Weinrich als deutsches, ja europäisches Beispiel gelten. Der am 24. September 1927 Geborene stand mit beiden Füßen fest auf sprach- und literaturwissenschaftlichem Boden, zwei „nur“ sprachlichen Disziplinen, die aber anspruchsvoll genug sind; obendrein bediente Weinrich souverän je sowohl die romanistische als auch die germanistische Variante.

          Diesen Fächern schenkte Weinrich mehrere Standardwerke, zentral „Tempus – Besprochene und erzählte Welt“ (1964) und die Textgrammatiken (eine französische und eine deutsche), aber auch Bücher zur Literaturgeschichte, zur Lüge, ja zur Heiterkeit und zum Vergessen. Neben der eleganten Sprache teilen sie ein Charakteristikum: So abstrakt sie auf den ersten Blick mitunter scheinen, sie lassen sich auf ein handfestes Interesse für Sprecher- und Rezipientenrolle zurückführen, eine fundamentale Ebene, auf der Sprach- und Literaturwissenschaft ohne weiteres zusammenfinden. Zudem ahnt man im Hintergrund stets einen gut gefüllten historisch-philosophischen Spei­cher, der die Grundsatzfragen des menschlichen Bewusstseins und der Existenz einspeist.

          Begründer eines neuen Fachs

          Wie man dahin kommt? Vielleicht nur, wenn man mit Cervantes anfängt. Nach zweieinhalb Jahren Kriegsgefangenschaft, die Weinrich immerhin die französische Sprache vermittelte, studierte er Romanistik, Germanistik, Latinistik und Philosophie. Die Dissertation von 1954 zu „Das Ingenium Don Quijotes“ betreute Heinrich Lausberg in Münster, die Habilitation vier Jahre später zu „Phonologische Studien zur romanischen Sprachgeschichte“ ebenfalls. Es folgten frühe Professuren in Kiel und Köln, aber richtig spannend wurde die Mitbegründung der Universität Bielefeld von 1969 an sowie die Professur für „Deutsch als Fremdsprache“ an der LMU München (von 1978 an). Weinrich hat nicht nur ein Institut, sondern ein ganzes Fach aus der Traufe gehoben; diesmal war die germanistisch-romanistische Dop­pelkultur entscheidend.

          Dass die akademische Welt seine Leistungen zu schätzen wusste, belegten erst amerikanische Gastprofessuren und später eine außergewöhnliche Ehre, nämlich der Lehrstuhl „Langues et littératures romanes“ am Collège de France (1992 bis 1998) – Weinrich war der erste deutsche Lehrstuhlinhaber in der Geschichte der 1530 gegründeten Institution. Auch Italien ehrte ihn, mit dem Galileo-Galilei-Lehrstuhl an der Scuola Normale Superiore (Pisa) und der Mitgliedschaft in der Accademia della Crusca (Florenz). Deutschland hatte immerhin das Wissenschaftskolleg, die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, deren Sigmund Freud-Preis sowie zahlreiche Preise und Ehrendoktorwürden zu bieten.

          Dem Polyglotten stand die wissenschaftliche Welt offen

          Eine internationale Karriere also, der Weinrich als Polyglotter auch sprachlich gewachsen war. Vor diesem Hintergrund überrascht die Eigenart seines europäischen Engagements nicht. Die Frage der demokratischen Einheit des Kontinents ist zentral eine sprachliche, hat Weinrich betont, und mit Blick auf die Sprach­geschichte herausgestellt: „Mehrsprachigkeit ist die Regel, Einsprachigkeit ist die Ausnahme.“ Die Dominanz des Englischen als neue Lingua franca dürfe die europäische Mehrsprachigkeit daher eben nicht erdrücken – eine Forderung, die gültiger ist denn je.

          Dass ein Denker und Leser, der kon­stant Montaigne als Lieblingsautor ge­nannt hat, dem Tod gelassen entgegen­gegangen ist, kann vorausgesetzt werden. Stellt sich die Frage des Ortes, denn über Wismar hat Weinrich gesagt: „Die mecklenburgische Stadt als Geburtsort eines Romanisten: ich werde in Rom sterben müssen, um das auszugleichen.“ Am 26. Februar ist Harald Weinrich im Alter von 94 Jahren verstorben, allerdings in seiner Studienstadt Münster.

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