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Gedichtschmähungen : Lyrikliederlich

Die Lyrikerin Judith Zander Bild: dpa

Nie war man mit solcher Genugtuung Dichter: Nach der Bekanntgabe der Vergabe des Peter-Huchel-Preises an die Lyrikerin Judith Zander kochte auf Facebook der Zorn hoch.

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          Als Marcel Reich-Ranicki vor fast fünfzig Jahren in dieser Zeitung die „Frankfurter An­thologie“ begründete, begrüßte er sie selbst mit einem publizistischen Fanfarenstoß unter der Überschrift „Der Lyrik eine Gasse“. Seitdem werden hier Woche für Woche Gedichte in­terpretiert, und dieses Forum hat seitdem et­was beigetragen zur Vermittlung einer literarischen Form, die voraussetzungsreicher ist als andere, obwohl sie alle aus demselben Stoff gemacht sind: Sprache.

          Es wäre ja vermessen, schon aus dem alltäglichen Um­gang mit Sprache ein verbreitetes Verständnis für deren unterschied­liche Ausprägungen abzuleiten. Was Gebrauchsanweisungsprosa oder Behördenjargon an Spott dräut, kann auch Gedichten widerfahren.

          1500 Kommentare auf Facebook, na und?

          Jüngst geschah das anlässlich der Bekannt­gabe der Vergabe des Peter-Huchel-Preises, einer der renommiertesten Lyrikauszeichnungen im deutschsprachigen Raum, die das Glück hat, von gleich zwei bedeutenden Institutionen vergeben (und mit 15.000 Euro do­tiert) zu werden: dem Land Baden-Württemberg und dem Südwestrundfunk. Letzterer stellte die Ge­winnerin Judith Zander auf seiner Facebook-Seite vor und gab auch noch ein Gedicht aus Zanders 2022 erschienenem Band „im ländchen sommer im winter zur see“ bei, für den sie den Preis zugesprochen bekommen hat. Die Reaktion des Facebook-Publikums war heftig und zahlreich: Mehr als 1500 Kommentare kritisierten die Verleihung mit Verweis auf angeb­liche Unverständlichkeit des Gedichts im Speziellen und Publikumsferne moderner Lyrik im Allgemeinen.

          Nun übersteigt sicher schon das erste Wort von Zanders Gedicht die üb­liche Aufmerksamkeitsspanne bei einem Facebook-Post: „grundlegende“ lautet es, und die Entscheidung, ob man es mit einem Nomen oder einem Adjektiv zu tun hat, ist eine Frage der Aussprache, die Judith Zander ihren Lesern nicht abnimmt. Gedichte sind nun einmal nicht am üblichen Sprachgebrauch zu messen, sonst bräuchte man sie ja gar nicht.

          Das nennen wir ganz schön erbaulich

          Doch 1500 Kommentare dürften mehr gewesen sein, als es Käufer von Zanders Gedichtband gab: Die so ins Licht der Öffentlichkeit gezerrte Autorin bescheinigte gegenüber dem Deutschlandfunk dem Gegenwind (um ein skatologisches Schlagwort zu meiden) im Netz „Schockwirkung“ und vermutete „Be­sitzneid“ angesichts der Preissumme – „ganz schön erbärmlich“.

          Wir sagen dagegen im Sinne der 1998 von Georg Franck be­gründeten Aufmerksamkeitsökonomie: ganz schön erbaulich. Nie waren Judith Zanders Gedichte in so vielen unberufenen Mündern wie heute, nie konnte man mit solcher Genugtuung Dichter sein. Der Lyrik eine Gosse.

          Andreas Platthaus
          Verantwortlicher Redakteur für Literatur und literarisches Leben.

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