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Ágnes Heller über Freiheit : Kein Weg führt nach Utopia

  • -Aktualisiert am

Ágnes Heller im Burgtheater Bild: Picture-Alliance

Freiheit ist das Signum der Moderne. Aber auf den faktischen Gebrauch dieser Möglichkeit der Wahl kommt es an für das soziale und politische Leben heute: Diese Rede schrieb die ungarische Philosophin Ágnes Heller kurz vor ihrem Tod.

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          Lassen Sie mich mit dem Modellfall beginnen: das Buch Exodus des Alten Testaments. Das Volk der Israeliten entkam aus Ägypten, wo sie in Knechtschaft leben mussten. Sie wurden aus ihrer Knechtschaft befreit, ohne für die Freiheit kämpfen zu müssen – sie erhielten ihre Freiheit als ein Geschenk. Als sie durch die Wüste zogen, verloren sie die Sicherheit, die mit der Knechtschaft einherging. Die Unsicherheit des Lebens in der Wüste weckte die Sehnsucht nach den Fleischtöpfen Ägyptens, zurück zur Sicherheit ihrer Knechtschaft. Dann erhielten sie als göttliches Geschenk ein Grundgesetz in Form der zehn Gebote. Nachdem sie also aus der Sklaverei befreit wurden, erhielten sie nun auch die Möglichkeit, tatsächlich freie Menschen zu werden. Denn nur freie Menschen können über ein Grundgesetz verfügen, das die alleinige Garantie politischer Gleichheit ist. Solch ein Grundgesetz ist die Bedingung dafür, dass Grundrechte möglich werden, einschließlich des Grundrechtes auf Sicherheit. Und wie haben sie die Möglichkeit, als freie Menschen zu handeln, genutzt? Sie haben das goldene Kalb angebetet.

          Dieser symbolische Beispielfall hat sich oftmals in der Geschichte wiederholt. Zuletzt in der jüngeren Geschichte einiger osteuropäischer Länder – wie in meinem eigenen Land, in Ungarn –, wo die Menschen Freiheit als „Geburtstagsgeschenk“ erhielten und nicht in der Lage waren, diese auch zu erhalten. Das hatte viele Gründe, und einer davon war, dass sie die Sicherheit der Knechtschaft gewohnt waren.

          Obwohl dieses biblische Beispiel der Spannung zwischen Freiheit und Sicherheit sich immer wieder in der menschlichen Geschichte wiederholte, rückte es doch nur selten ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Denn für mehr als zweitausend Jahre gab es nur ein begrenztes Angebot von politischen Institutionen, letztlich wurden alle Nationen von einem König oder von einigen aristokratischen Familien beherrscht. Aristoteles beschrieb die Situation so: Manche Menschen werden frei geboren, andere als Sklaven. Der Ort der Geburt bestimmt den Platz, den ein Mensch bis zu seinem Tod in der sozialen Hierarchie einnimmt, und dasselbe gilt für seine Nachkommen.

          Der Mensch in Ketten

          In der Moderne rückte diese bis dahin marginalisierte Spannung ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Denn die Welt der Moderne unterscheidet sich grundlegend von allen anderen Epochen zuvor. Dieser Unterschied wurde von den Philosophen der Aufklärung in Worte gefasst, und er wurde zum geltenden Recht in der ersten republikanischen Verfassung, nämlich in der Aussage, die alles Kommende fundierte: „Alle Menschen sind frei geboren.“ Bereits Jean-Jacques Rousseau hatte aber einen Nachsatz hinzugefügt: „Der Mensch ist frei geboren – und überall liegt er in Ketten.“ Damit hat er auf die strikte philosophische Trennung von transzendentalen und empirischen Aussagen hingewiesen. Allerdings fußt nicht nur die transzendentale Aussage „Alle Menschen sind frei geboren“ auf einem Universalismus, sondern auch der empirische zweite Teil, der von einem „überall“ spricht.

          Die fundamentale Idee der modernen Welt war damit ausgedrückt. Knechtschaft und Sklaverei existieren zwar, aber sie widersprechen dem in der transzendentalen Aussage ausgedrückten normativen Anspruch. Dieser Anspruch drückt den natürlichen Zustand aus, die empirische Realität hingegen – der Mensch in Ketten – sei unnatürlich.

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