Sommer ohne Politik : Das deutsche Dösen
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Wetterfest: Das Bundeskanzleramt in Berlin Bild: Andreas Pein
In sieben Wochen wird ein neuer Bundestag gewählt. Es gäbe so vieles, worüber sich gut streiten ließe. Aber das Land schläft vor sich hin – und die Parteien wollen nicht stören. Braucht es einen Weckruf?
In diesen sommerlichen Tagen, da jene Tiefs, die Alfred, Christoph, Erik oder Fritz hießen, sich zurückgezogen haben und sonniges Licht die Hauptstadt bescheint – in diesen Tagen sind es jetzt Cem und Martin, Katrin und Angela und natürlich Frauke, welche die Stimmung deutlich nach unten drücken. Nachdem man, nur zum Beispiel, in München und in Potsdam schon erste, vereinsamte und an sich selber desinteressiert wirkende Poster beobachten konnte („wir halten, was CSU verspricht“, verspricht, im Slang des Hasenbergls, die Münchner AfD), wird an diesem Wochenende ganz Berlin und der größte Teil Deutschlands mit den Plakaten der Parteien vollgeklebt. Es sind keine zwei Monate mehr bis zur Wahl. Es könnte also um etwas gehen.
Die Kampagne der CDU hat sich die Agentur Jung von Matt ausgedacht, eine der besten, jedenfalls nach eigener Einschätzung, und man darf sich gerne vorstellen, wie, in schicken Hamburger Büroräumen, die Werber in ihren knappen Dries-van-Noten-Anzügen auf Konferenzstühlen sitzen, aus ihren teuren Oliver-Peoples-Brillen sehr kreativ und nachdenklich herausschauen in die Welt der Politik. Und ein Club-Mate nach dem anderen trinken, bis endlich ein paar pointierte, geistreiche und verblüffende Slogans gefunden sind. „Für mehr Respekt vor Familien“ steht auf einem Plakat, vor stilisiert-abstraktem Hintergrund in den deutschen Farben. „Für Sicherheit und Ordnung“ steht auf einem anderen. Und auf dem allerkreativsten lächelt uns die Bundeskanzlerin an und verspricht „ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben“.
Gefahr und Durcheinander
Was ja auch deshalb so spannend klingt, weil man davon neugierig wird auf die Plakate jener Parteien, die weniger Respekt vor Familien fordern. Ein Deutschland, in dem Leid, Elend und schlechte Laune wieder eine größere Rolle spielen sollen. Und, natürlich: Gefahr und Durcheinander.
Die SPD kann damit nicht dienen. Ihre Plakate fordern Bildung, die nichts kosten soll, Renten, die reichen sollen, gerechte Löhne und, natürlich, eine gute Familienpolitik. Sowie eine Politik, die „in Ideen investiert“, schon weil das dem Land der Dichter und Denker angemessen sei.
Die Grünen könnten sich jede dieser Forderungen zu eigen machen – und dass ihre Kampagne einen etwas anderen Akzent hat, scheint daran zu liegen, dass sie sich irgendwann daran erinnert haben, dass es ja mal ein ganz handfestes Motiv gab, diese Partei zu gründen. Also setzt Cem Özdemir sein realohaftestes Lächeln auf, und unter seinem Gesicht steht in Großbuchstaben: „Zwischen Umwelt und Wirtschaft gehört kein Oder.“ Ein Satz, über dessen tieferen Sinn die Wähler bis Ende September nachdenken können. Wogegen diese Sätze hier „Umwelt ist nicht alles. Aber ohne Umwelt ist alles nichts“ so offensichtlich widersinnig sind, dass einen das Nachdenken darüber ganz traurig macht.
Die Linke fordert, was alle fordern, mit der leichten Abweichung, dass sie abrüsten und Waffenexporte untersagen will. Die FDP zeigt Christian Lindner, immer Christian Lindner, wie er mal das Sakko anbehält, mal die Ärmel hochkrempelt und, außer dem, was alle fordern, auch ein Digitalministerium, das Ende des Soli und ein Einwanderungsgesetz ins Spiel bringt. Und die AfD, sonst Speerspitze der schlechten Laune, bringt noch am ehesten eine gewisse Sinnlichkeit auf die Plakate, indem sie die Deutschen dazu auffordert, Burgunder zu trinken und Kinder zu zeugen.
Sperrangelweit offene Türen
Dass das meiste von dem, was sich gerade Wahlkampf nennt, eher ein Verhütungsmittel ist, als dass es Lust machte auf Politik oder irgendjemanden dazu inspirierte, Konflikte endlich mal auszutragen, das fällt sogar jenseits unserer Grenzen auf. „Deutschland döst“, so hat der „Economist“ seinen Bericht über die deutschen Kampagnen überschrieben – und man würde gern zustimmen, wenn nicht dem Dösen zumindest die Möglichkeit des Träumens innewohnte.
Den Traum aber, dass irgendetwas sich ändern könnte, scheinen alle, die Wähler wie jene, die sich der Wahl stellen, längst aufgegeben zu haben. Die Umfragen sagen doch, wer gewinnen wird, es bäumt sich niemand dagegen auf, und nur ein kleines bisschen Spannung verknüpft sich mit der Frage, ob es schwarz-gelb, schwarz-grün, schwarz-grün-gelb werden wird. Oder wieder die große Koalition, die der konsequenteste Ausdruck des allgemeinen Dösens wäre.
Wähler, die sich an den vergangenen Winter erinnern können, fragen sich, ob sie das nur geträumt haben, im Januar und im Februar: dass der Ausgang der Wahl noch einmal offen sei; dass es eine Konkurrenz, einen echten Wettstreit geben könnte; dass es also um etwas gehen könnte im September.
Was Martin Schulz, für ein paar Wochen, zum Helden aller Umfragen machte: das war womöglich der Emmanuel-Macron-Effekt – nur leider ohne jenen Macron, der es während seines Wahlkampfes schaffte, dass die Menschen schon jubelten, wenn er nur „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ rief. Es schien damals auch in Deutschland ein Bedürfnis bei der bürgerlichen Mitte zu geben, sperrangelweit offene Türen noch einmal einzurennen, allseits geteilte, hochvernünftige und allgemein menschliche Haltungen mit neuem Schwung zu artikulieren, sich selber zu bestätigen, dass man eine Stimme habe, eine laute – schon um dem Ressentiment, dem „Volksverräter“-Gebrüll, dem grassierenden Autoritarismus zu demonstrieren, wo die Mehrheit war.
Komplett sinnlos
Das ging nicht mit Angela Merkel: nicht wegen politischer Differenzen, aber es war halt schon das zwölfte Jahr ihrer Kanzlerschaft, kein guter Zeitpunkt für einen radikalen Neustart. Martin Schulz allerdings wusste nichts Besseres zu tun, als sich hinzustellen und zu bekennen, dass er sein Glück nicht fassen könne, er, aus Würselen, kein Abitur, aber nah beim Volk. Heute denkt man: Ach, hätte er es doch gefasst, mit beiden Händen, dieses Glück, dann hätten wir vielleicht einen richtigen Wahlkampf bekommen.
Und jetzt?
Jetzt steht man, so als bürgerlicher Wahlberechtigter, vor den Plakaten – und fragt sich, ob endlich mal ein Streit beginnen könnte, in dem es um wesentlicherer Dinge ginge als um die Frage nach Motiven und Moral einer gewissen Frau Twesten aus der niedersächsischen Provinz. Angesichts der tiefen moralischen und technischen Krise der deutschen Automobilindustrie (die Technologie, auf welcher der Erfolg von Tesla baut, stammt ja zum großen Teil aus deutschen Zukunftslaboren, aber man war halt zu träge für diese Zukunft); angesichts der miserablen Infrastruktur, der analogen wie der digitalen; angesichts eines Personals in Politik und Verwaltung, das von der eigenen Herkunft so wenig Ahnung zu haben scheint wie von der eigenen Zukunft – angesichts all dessen fragt man sich, wann den Grünen das radikalökologische Bewusstsein abhandengekommen ist, der SPD die Fortschrittsfreude und der Union das Gespür dafür, was konservativ zu sein heute bedeuten könnte. Die politischen Differenzen, um die es in diesem Wahlkampf zu gehen scheint, offenbaren sich nur darin, ob man sich zu den gegebenen Verhältnissen, zur Totalität der Gegenwart, mehr (wie die Grünen) oder weniger (wie die Union) nörgelig verhält.
Und nichts taugt so sehr zur Veranschaulichung des ganzen Elends wie jener Werbespot der SPD, der „Zeit für mehr Gerechtigkeit“ betitelt ist und bei Youtube jederzeit verfügbar. Der Spot besteht aus schriftlich formulierten Forderungen und den Bildern dazu; man liest also, dass es bessere Bildung geben solle, sicherere Renten, bezahlbareren Wohnraum, eine Entlastung der Familien, na und so weiter. Nur was die Bilder dazu zeigen, das sind glückliche Schulkinder, zufriedene Senioren, bestens gelaunte Familien, Mieter, die anscheinend gerade eine neue, sonnige, gut renovierte Wohnung beziehen.
Es braucht kein Forschungssemester in Filmtheorie, um zu erkennen, dass man das, was solche Bilder zeigen, als Wirklichkeit und nicht als Möglichkeit wahrnimmt, dass also der ganze Spot komplett sinnlos ist. Glückliche Kinder fordern Glück, zufriedene Rentner fordern Zufriedenheit, heile Familien fordern, heil zu sein. Die Herausforderungen, vor denen die Gesellschaft (und jede künftige Bundesregierung) stehen werden, bleiben unsichtbar.
Wohlwollendes Desinteresse
Was die Frage aufwirft, ob solche Enge und Borniertheit eher der Ausdruck einer grundsätzlich betulichen gesellschaftlichen Disposition ist – oder doch eine gefährliche Unterschätzung und Unterforderung der Wähler. Der radikale Widerspruch zu den bestehenden Verhältnissen jedenfalls, die konsequente Arbeit an ganz anderen Zukunftsmodellen, von der Vision einer Wirtschaft ohne Wachstum bis zum radikal technophilen Akzelerationismus, all das also, was zum Beispiel in Kalifornien diskutiert, erforscht, erprobt wird, bleibt bei uns in den akademischen und subkulturellen Nischen. Und diese komplizierte Sache mit Big Data, diese Fragen von Überwachung, Steuerung, Manipulation, sind erst recht zu schwierig, als dass man sie dem deutschen Wähler zumuten dürfte.
Kann es aber sein, dass der Wähler dafür dankbar ist? Kann es sein, dass unsere alternde Gesellschaft, naturgemäß ohne sich dessen bewusst zu werden, einen immer stärkeren Hang zu Konfliktscheu, Betulichkeit, Konformismus entwickelt? Dass selbst die scheinbar offenkundige Toleranz, die man an den diversen Christopher Street Days genauso zu erleben glaubt wie im Verhältnis zu den ethnischen Minderheiten in unseren Städten, dass all das eigentlich nur der Indifferenz, einem wohlwollenden Desinteresse, ja einer grundsätzlichen moralischen Trägheit geschuldet ist? Einer Haltung also, die unempfindlich ist gegen Abweichungen aller Art, solange sie selbst nicht herausgefordert wird? Der Umgang mit Rolf Peter Sieferles „Finis Germania“, dessen Erfolg der „Spiegel“ vor seinen Lesern geheim halten wollte, zeugte jedenfalls weder von Konfliktbereitschaft noch von Selbstbewusstsein, und der Umstand, dass Oskar Roehlers konsequent obszönes Manuskript „Selbstverfickung“ von fast jedem deutschen Verlag abgelehnt wurde, zeugt von einer geistigen und ästhetischen Enge, die sich ihrer selbst noch nicht einmal bewusst ist.
Im Werbeclip der CDU zum nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf spielte Armin Laschet, ein, wie jeder Talkshow-Seher weiß, eigentlich recht freundlicher und gutgelaunter Herr, eine Variation von Michael Douglas’ Rolle in dem Film „Falling Down“ nach: einen Mann, der überall nur Verwahrlosung und Heruntergekommenheit sieht. Und davon richtig zornig wird. Nein, die Waffe hat er nicht gezogen; er hat nur um die Stimmen der anderen Wütenden geworben. Und die Wahl gewonnen.
Es muss auch in diesem Wahlkampf mehr gestritten werden.