Deutsche Sprache : Abschied vom Sie
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In Amerika ist es easy: „You“ und der Vorname geht einfach immer. Selbst in der Präsidentschaftsdebatte. Bild: AP
Wer hat sich nur das Siezen ausgedacht? Während wir Deutschen unbeholfen zu Plural-Formen greifen, um eine Du/Sie-Entscheidung zu umgehen, nennen sich selbst amerikanische Fernsehduellanten nur beim Vornamen.
Wer auch immer sich das Siezen ausgedacht haben mag, kann kein Menschenfreund gewesen sein, wohnt doch dieser Form der Anrede nicht nur die feudale Höflichkeit der Pluralisierung inne, sondern gleichzeitig ein merkwürdiges Wegsehen vom Gegenüber: Nicht „Habt Ihr heute wohl geruht?“, sondern, von der dritten Pluralperson abgeleitet, eben „Haben Sie wohl geruht?“, ganz als handelte es sich beim Geruhthabenden um kein direkt ansprechbares Gegenüber, sondern eine Menschenmenge, die man nur zufällig gerade so eben im Blick hat, und konsequent wäre es dann immerhin noch gewesen, hätte der Angesprochene erwidert: „Ja, haben sie.“ Womit er dann die Gesamtheit aus Es, Ich und Über-Ich gemeint haben könnte oder, moderner gedacht, all die verschiedenen, bunt oszillierenden Persönlichkeiten, die der einzelnen Seele innewohnen.
So birgt das Siezen immer schon eine Art des leicht verklemmten Aneinandervorbeiredens. Der Begegnung Zugeneigten ist es daher eine Freude, der existentiellen Krise dieser Anrede zuzusehen. Die Siezverweigerung bei gleichzeitiger Respektbekundung ist an vielen Arbeitsstätten gang und gäbe („Frau Lehmann, wo hast du denn das Bohnerwachs hingestellt?“), wohingegen die patriarchalische Umkehrung „Bettina, bringen Sie mir doch mal den Vorgang Schmidt“ im Aussterben begriffen ist. Letzte Sie-Befürworter lassen sich nicht abhalten, wie es ängstliche Naturen nun mal tun, hier einen Werteverfall zu erkennen – obwohl die meistverbreitete Sprache der Welt ganz selbstverständlich alles zu „you“ macht und sich nun auch die amerikanischen Fernsehduellanten ausdrücklich nur beim Vornamen angeredet haben.
Im Schatten der Elfenbeintürme ist das „Sie“ längst auf Abschiedstournee, einige interessante Schwundstufen hinterlassend dabei. Etwa greift man gegenüber Kioskverkäufern gerne auf den nächstliegenden Plural zurück: „Habt ihr diese Lakritzschlangen da auch in Grün?“, was als Ausdruck einer leichten, oberflächlichen Vertrautheit genau angemessen erscheint. Umgekehrt ist Unterzeichnender im Supermarkt auch schon gefragt worden: „Brauchen wir den Bon?“ So wird eine lästige Pflichtkommunikation zum gemeinsamen Anliegen, mit einem erhebenden Solidaritätsgefühl verlässt man den Laden. Daher bleibt nur eine Gruppe von Deutschsprechern dem Siezen verbunden – Nichtmuttersprachler, die freudvoll das Angebot annehmen, im Gespräch nicht über die Flexion des Verbs nachdenken zu müssen. Zu „Sie“ passt allemal der Infinitiv. Wie soll man denn auch, wenn man „nehmen“ gelernt hat, auf „nimmst“ kommen? In wenigen Sprachen würde „nimmst“ wohl in den Rang eines ernstzunehmenden Wortes erhoben werden, daher sind Austauschstudenten froh übers Siezen. Eine Sorge weniger im Dschungel des überregulierten, archaischen, meist wenig einladenden Deutschen.