Das Wesen des Westens
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Institutionalisierung der Herrschaftskritik: „Arbeiter vor dem Düsseldorfer Stadtrat” von Johann Peter Hasenclever, 1848/49 Bild: picture alliance
Seit ihren Anfängen hadert die westliche Moderne mit sich selbst. Nur so war es ihr möglich, ihre Geschichte zu einer Geschichte fortlaufender Selbstkorrekturen werden zu lassen. Ein Gastbeitrag.
Plötzlich scheint es ihn wieder zu geben: den Westen. Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine hat die Verständigung über das, was der Westen ist, ob es ihn überhaupt gibt und was ihn ausmacht, neuen Auftrieb erhalten. Viele sehen seine Institutionen und Werte herausgefordert und verteidigen sie gegen Kritik. Andere stoßen sich an dem neuen selbstgefälligen Ton seiner Apologeten. Sie stellen heraus, dass angesichts der Überlagerung der globalen Krisen, in die wir verstrickt sind, kein Grund zur Kultivierung von Überlegenheitsgefühlen besteht, und fordern, aus den dynamischen Wachstumstendenzen des Westens auszusteigen. Der Aufruf zum Ausstieg aus der westlichen Ordnung unterschätzt allerdings – wie übrigens auch ihre selbstgerechte Verteidigung – die in ihr liegenden Potentiale der Kritik und der Veränderung, denn die westliche Moderne ist nicht einfach ein die Grenzen des Fortschritts permanent missachtendes optimistisches Zukunftsprojekt, das jetzt angesichts der weltweiten Krisen zum Umdenken aufgefordert ist.
Wirft man einen Blick auf ihre mehr als zweihundertjährige Geschichte, kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass die westliche Moderne bei allen weitgespannten Ansprüchen auf Wachstum und Expansion und teilweise gerade aufgrund dieser Steigerungsansprüche von Anfang an mit sich selbst haderte. Ihre Fähigkeit zur Selbstkritik ist ein Teil ihres Selbstverständnisses, tief in ihre Geschichte hineingelegt und vielleicht ihr bester Teil. Heute festzustellen, man werde „den quasi religiösen Glauben der Moderne an die Zwangsläufigkeit des Fortschritts wohl verabschieden müssen“ (Andreas Reckwitz), bedeutet, die lange Geschichte der Infragestellung dieses Fortschrittsglaubens seit der Aufklärung zu verkennen, mit der man die europäische Moderne vielleicht beginnen lassen kann.
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