Der Zukunftsforscher : Der Weltuntergang wäre dann doch zu konsequent
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Ins Offene denken: Hans Magnus Enzensberger Bild: picture-alliance / dpa/dpaweb
Ausnahmefall als Normalzustand: Als Gegenwarts- und Zukunftsforscher ging es Enzensberger nicht um eine beruhigende Wirkung. Es ging ihm darum, Turbulenz ins deterministische Chaos zu bringen.
Der normale Zustand der Atmosphäre ist die Turbulenz.
Hier spricht kein Meteorologe und kein Fachmann für Strömungslehre. Hier wird der Ausnahmefall, denn als solchen pflegt der gelegentliche Flugzeugpassagier die als bedrohlich empfundenen Luftverwirbelungen wahrzunehmen, zum Normalzustand erklärt. Wer die Wiederkehr des Normalzustands vorhersagt, kann ebenso wenig fehlgehen wie derjenige, der die bevorstehende Abweichung von ihm ankündigt: Beides wird unfehlbar irgendwann eintreffen. Der Kunstgriff liegt hier in der Kippfigur, darin, dass der Normalzustand und seine vermeintliche Aufhebung scheinbar zur Deckung gebracht werden, als seien sie identisch. Eine beruhigende Wirkung soll damit allerdings nicht erzielt werden.
Enzensberger stellte diesen Satz an den Anfang seiner 1992 erschienenen Betrachtung „Die Große Wanderung“, einer Reflexion über globale Migrationsbewegungen. Sie beginnt bei den in Afrika vermuteten Anfängen der Menschheit und führt über Kain und Abel, den Exodus der Europäer in die Neue Welt und das irische Elend im neunzehnten Jahrhundert in die Gegenwart zu Beginn der neunziger Jahre, als Begriffe wie Asylpolitik, Brain Drain und Einwanderungsland die Gemüter erregten. Enzensberger war damals vielleicht der Erste, der darauf hinwies, dass man nicht gut das Aussterben der Deutschen an die Wand malen und gleichzeitig das Rettungsboot des bedrohten Völkchens für überfüllt erklären könne. Die Vorstellung, es könnten auf ein und demselben Territorium gleichzeitig zu wenige und zu viele Menschen existieren, schrieb er einem Leiden zu, das er als „demographische Bulimie“ bezeichnete. Die Bezeichnung hat sich nicht durchgesetzt, aber auch die Krankheit ist heute nicht mehr so weit verbreitet wie damals. Dass der von Enzensberger bemängelte logische Widerspruch sich aufs schönste ins Erscheinungsbild der Turbulenz mit ihrem deterministischen Chaos fügt, blieb dabei unerwähnt.
Ende der Konsequenz
Enzensberger ließ seinen Reflexionen eine Fußnote folgen, mit der er von der globalen Perspektive wieder in kleindeutsche Verhältnisse wechselte. Wenn er damals angesichts sich häufender fremdenfeindlicher Übergriffe in Ost und West von massenhaftem Straßenterror sprach, dem Staat einen einwanderungspolitisch motivierten Teilverzicht auf sein Gewaltmonopol vorwarf und sogar Verhältnisse befürchtete, wie „Deutschland sie gegen Ende der Weimarer Republik erlebt hat“, war er, Stichwort Weimar und das Ende der Demokratie, jener Schreckensfigur erstaunlich nahe gerückt, von der er 1978 im „Kursbuch“ geschrieben hatte, sie gehöre zu unserem „ideologischen Handgepäck. Sie ist ein Aphrodisiakum. Sie ist ein Angsttraum. Sie ist eine Ware wie jede andere.“
Damals war unter der Überschrift „Zwei Randbemerkungen zum Weltuntergang“ von der Apokalypse die Rede. Dass der Terror auf unseren Straßen sich noch immer in erfreulichen Grenzen hält und auch die Apokalypse noch nicht eingetreten ist, mag nicht zuletzt mit dem „Ende der Konsequenz“ zusammenhängen, dem Enzensberger 1981 einen Essay in „Transatlantik“ widmete. Sein letzter Satz bezeichnet sehr schön die eigentliche Grundhaltung des Zukunfts- wie des Gegenwartsforschers Enzensberger: „Ich möchte diese Frage, wie die meisten, die mich interessieren, offenlassen.“