Der Präsident spricht : Es geschah am 28. Juni
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Martin Schulz bei seiner Rede vor dem Europäischen Rat Bild: REUTERS
In seiner Rede vor dem Europäischen Rat hat Martin Schulz, der Präsident des Europa-Parlaments, vor einem dramatischen Demokratiedefizit bei den Maßnahmen zur Euro-Rettung gewarnt.
Rund um den EU-Gipfel in Brüssel läuft ein Demokratie-Ticker. Auf diesem Live-Ticker wird die Demokratieverträglichkeit oder -unverträglichkeit der Planungen fürs neue Europa angezeigt. Der Ticker tickt in den Reden der Parlamentarier, der Sprecher der Volksvertretungen. Sie sehen die Gefahr, von der Exekutive hintergangen zu werden und wehren sich.
Es geht um Fragen wie: Verändert der Zeitdruck die demokratischen Prozeduren? Wo ist der kritische Punkt erreicht, an dem Demokratie in Autoritarismus umschlägt? Wie kann eine Handlungsfähigkeit just in time gewährleistet werden, ohne deren demokratische Grundlage zu beschädigen? Wie viel politischen Zeitdruck verträgt die Demokratie?
Ein Beispiel ist die heute beim Europäischen Rat gehaltene Rede von Martin Schulz, dem Präsidenten des Europäischen Parlaments. Schon ihr Beginn machte klar, dass es nicht bloß um eine weitere fiskaltechnische Bedienungsanleitung Europas gehen würde, sondern um die Sicherung seiner demokratischen Substanz. Schulz setzte mit einer historischen Dramaturgie ein, die von Sarajevo ausgeht: „Heute vor 98 Jahren, am 28. Juni 1914, wurde der österreichisch-ungarische Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajevo bei einem Attentat ermordet. Mit diesem Datum beginnt für Europa die grausame erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Es folgten Hass, Krieg, Völkermord und Vertreibung. Als Lehre aus dieser europäischen Katastrophe haben wir die europäische Einigung hervorgebracht.“
Schulz weiß, was er beklagt
Vor diesem historischen Aufriss erscheint ein Hintergehen der demokratischen Standards beim europäischen Einigungsprozess als etwas Unverzeihliches, das die europäische Idee verhöhnt. Mit anderen Worten: Europa lässt sich nur demokratisch einigen oder gar nicht. Schulz weiß, was er beklagt, denn der Masterplan zur Integration Europas, der jetzt in Brüssel diskutiert wird, kam ohne Mitwirkung des Europäischen Parlaments zustande. Schulz war als dessen Präsident nicht Mitglied der Vierergruppe, die seit Wochen über die vertiefte Integration Europas berät. „Das Europäische Parlament hat in einem von allen Fraktionen gefassten Beschluss gefordert, den Präsidenten an diesen Beratungen zu beteiligen.“
Dass dies dennoch nicht geschah, dass im Autorenteam des Masterplans die Namen van Rompuy, Barroso, Juncker, Draghi auftauchen, nicht aber der Name Schulz – darin erkennt der Chef der europäischen Bürgervertretung eine Architektur der Entdemokratisierung, mit der Europas Haus einen schweren Bauschaden davontrüge, würde sie nicht korrigiert: „Am sogenannten Masterplan für eine politische Union wird derzeit von der Kommission, dem Rat, der Europäischen Zentralbank und der Euro-Gruppe gearbeitet – unter Ausschluss des Europäischen Parlaments. Es ist nicht akzeptabel, dass die einzige direkt gewählte EU-Institution, die Stimme der Bürgerinnen und Bürger in Europa, von der Debatte über die Zukunft der EU ausgeschlossen wird.“
Tatsächlich kann man nicht einerseits das Fehlen einer genuin europäischen Öffentlichkeit beklagen (oder sie mangels anderer Manifestationen schon im public viewing der Europameisterschaften sehen wollen) und andererseits die europäische Rechnung ohne den Wirt des Europäischen Parlaments machen, wie unvollkommen dieses Gremium als Bürgervertretung auch immer sein mag.
Kein Wort zur Frage der Beteiligung
Das hält ansatzweise auch das jetzt im Mittelpunkt stehende Papier der Vierergruppe fest, wenn es für die engere Integration eine „stärkere demokratische Grundlage“ fordert, um diesem Vorhaben dann freilich nur ein paar wenige Zeilen zu widmen. Was nutzt der richtige Appell des Papiers: „Die intensive Beteiligung des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente ist von zentraler Bedeutung“, wenn kein Wort zur Operationalisierung folgt, kein Wort zu der Frage, wie diese Beteiligung gesichert werden könnte.
Dieses Versagen hatte Schulz im Blick, als er nun im Europäischen Rat taktvoll, aber deutlich auf den demokratischen Prozeduren bestand: „Seit zwei Jahren erleben wir ein ums andere Mal, wie unter enormem Druck und Zwang Entscheidungen getroffen werden mussten. Dafür haben Sie meinen Respekt, meine Damen und Herren, und ich habe auch Verständnis für Ihre Lage.“
Kein Verständnis aber verdiene es, wenn diese Lage ausgenutzt wird, um im Herzen des neuen Europas einen Autoritarismus zu installieren. Als Repräsentant eines multinationalen Parlaments könne er es nicht hinnehmen, „dass immer mehr Entscheidungen in parlamentsfreien Zonen getroffen werden“, erklärte Schulz. „Der Notfall wird zur Regel erklärt.“ Eine Praxis, gegen die Schulz gestern entschiedenen Gegenwehr ankündigte. Schon jetzt sammle sich im Europaparlament Widerstand gegen den exekutiven Stil der vollendeten Tatsachen. Eine Mehrheit der Abgeordneten über alle Fraktionsgrenzen hinweg rebelliere „in einem Ausmaß, wie ich es in meiner achtzehnjährigen Tätigkeit als Abgeordneter noch nicht erlebt habe“.
Die dramatische Bestandsaufnahme noch einmal in nüchternen Worten: Unter dem Handlungszwang der Euro-Rettung darf der Parlamentarismus nicht unter die Räder kommen.