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Ernst Tugendhat wird 90 : Was meint „ich“?

Mit analytischer Denkungsart: der Philosoph Ernst Tugendhat wird neunzig Bild: Hubert Matt-Willmatt

Wie verhalten sich Selbstbewusstsein und die Fähigkeit, sich von sich selbst zu distanzieren? Zum neunzigsten Geburtstag von Ernst Tugendhat, dem störrischen Philosophen.

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          Als Nicht-Philosoph fasst der Freiburger Romanist Hans-Martin Gauger seine Eindrücke von Ernst Tugendhat, dem seit bald acht Jahren ebenfalls wieder in Freiburg lebenden philosophischen Kollegen, wie folgt zusammen: „hohe Ernsthaftigkeit, Unverspieltheit, nichts von postmoderner Beliebigkeit, extreme Nüchternheit, Schonungslosigkeit nicht nur gegenüber anderen, sondern auch sich selbst gegenüber, restlose Unbestechlichkeit, stets zur Selbstkorrektur bereit, unsentimental, auch, was schwieriger ist, uneitel, nichts von Schauspielerei oder Pose“. Darin, in der Abwesenheit der Pose, dem Willen zur Transparenz, dem Vermeiden eines quasi poetischen Redens in der Philosophie – darin habe schon im Gestus eine Abgrenzung zu Heidegger gelegen, wobei man sich Tugendhat seinerzeit noch „eher unpolitisch“ vorstellen muss, wie Jürgen Habermas über den Freund Ernst schreibt, dessen politisches Bewusstsein nach eigener Aussage erst in der Studentenbewegung geschärft worden sei, während „störrische Attraktivität“ (Habermas) ihn von Anfang an ausgezeichnet habe.

          Christian Geyer-Hindemith
          Redakteur im Feuilleton.

          Mit seiner jüdischen Familie war Tugendhat 1938 in die Schweiz und dann nach Venezuela emigriert, den Nazis weichend verließ er als Achtjähriger die berühmte Mies-van-der-Rohe-Villa in seinem Heimatort Brünn. Nach altphilologischem Studium in Stanford wurde er in Freiburg mit einer Schrift über Struktur und Ursprung aristotelischer Grundbegriffe promoviert, kam dann über Münster und den dortigen Kreis um Joachim Ritter nach Tübingen, wo er sich mit dem Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger habilitierte. Seine wegweisende Schlüsselerfahrung war Mitte der sechziger Jahre die Entdeckung der analytischen Philosophie während eines Gastsemesters an der Universität Michigan in Ann Arbor, von wo seine Entwicklung zu einem der führenden sprachanalytischen Philosophen in Deutschland ihren Ausgang nahm, mit langjährigen Stationen in Heidelberg, Starnberg und an der Freien Universität.

          Die großen Unlösbarkeiten

          Tugendhats „Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie“ (1976) beeinflusste die philosophische Diskussion nicht weniger grundlegend als das drei Jahre später erschienene Werk „Selbstbewustsein und Selbstbestimmung“, das sofort eine Debatte über die anspruchsvolle Rede vom Ich provozierte, mit Dieter Henrich als idealistischem Kontrapunkt. In immer neuen Anläufen umkreiste Tugendhat das Verhältnis von Egozentrik und Universalismus zumal für Fragen der Ethik. Wie verhalten sich Selbstbewusstsein und die Fähigkeit, sich von sich selbst zu distanzieren? Tugendhat verstand es, dieser Frage in ihrem Belang fürs philosophische Erkennen und für die persönliche Lebensführung Gewicht zu geben. Als Ethiker steuerte er die großen Unlösbarkeiten an, die sich ergeben zwischen der notwendigerweise gebrochenen, immer nur relational begreifbaren Subjektivität einerseits und allgemeinen Geltungsansprüchen andererseits. Darin, in diesem Spannungsverhältnis, sicherte Tugendhat seiner analytischen Denkungsart den lebensweltlichen Bezug, blieb er ein Existentieller, ohne sich je in den kleinen Karos der angewandten Ethik zu verlieren.

          Ein im Analytischen wahlbeheimatetes Philosophenleben, auf Dauerabsprung nach Südamerika. Dabei kommt Tugendhat von der aristotelischen Metaphysik nicht los, gerade auch dort, wo diese sich ins Anthropologische aufzulösen scheint wie in seinem 2007 erschienenen Buch „Anthropologie statt Metaphysik“, das den Faden der vier Jahre zuvor publizierten Studie „Egozentrizität und Mystik“ aufnimmt. Am Sonntag wird Ernst Tugendhat neunzig Jahre alt.

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