Brief aus Istanbul : Sie fliegen hoch, die Kühlschränke
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Ein Zauberkünstler: Recep Tayyip Erdogan am Montag in Ankara Bild: AFP
Der Effekt des Coups, die Hagia Sophia zur Moschee zu machen, ist schon verpufft. Was bleibt Erdogan? Aggressive Außenpolitik und die Jagd auf die Opposition.
Sagen wir doch einmal, wie es ist: Erdogan ist einer der besten Zauberkünstler, den die politische Bühne je erlebt hat. Selbst wenn man glaubt, jetzt sitzt er aber in der Klemme, holt er ein Kaninchen aus dem Hut. Allerdings leben die hervorgebrachten Kaninchen nicht so lange. Doch für eine kurze Zeit ist Erdogan aus der Klemme befreit. Das letzte Kaninchen war die Umwidmung der Hagia Sophia zur Moschee. Mit diesem Zauber gedachte er, die ihm davonlaufende konservative Wählerschaft zurückzugewinnen.
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Von außen betrachtet mag das erfolgversprechend wirken. Doch die nackten Tatsachen, die Armut der unteren und mittleren Schichten, schmälern den erhofften Nutzen. In meinem letzten Brief aus Istanbul an Sie hatte ich schon Zweifel angemeldet. Vorsichtig hatte ich geschrieben, Erdogan könne die Herzen der konservativen und Mitte-rechts-Wähler vielleicht „für eine Weile“ erwärmen. Ich konnte nicht genau einschätzen, wie lange der Hagia-Sophia-Effekt anhalten würde. Eine Meinungsumfrage nur wenige Tage nach dem ersten Freitagsgebet in der Hagia Sophia ergab dann, dass der Coup die Kühlschränke der konservativen Wähler nicht gefüllt hat. Das Meinungsforschungszentrum Eurasien Akam hatte die Teilnehmenden gefragt, ob die Eröffnung der Hagia Sophia zum Beten Auswirkungen auf ihr Wahlverhalten habe. 99,7 Prozent der Befragten antworteten: „Das hat meine Wahlpräferenz nicht verändert.“ Nur 0,2 Prozent hatten sich aufgrund der Hagia-Sophia-Aktion entschieden, für das Bündnis von Erdogans AKP mit der ultranationalistischen MHP zu stimmen.
Die Turbulenzen wirken sich auf jeden Bürger aus
Die radikale Entscheidung, die ehemalige Kirche, das ehemalige Museum, in eine Moschee umzuwandeln, die das Ansehen der Türkei im Ausland nicht unberührt ließ, wirkte sich im Inland also nur geringfügig aus. Allgemein ist bei den Stimmen für Erdogan keine Steigerung zu verzeichnen, die Zahl seiner Unterstützer nimmt weiter ab. Einer Umfrage zufolge, die das Meinungsforschungsunternehmen Metro Poll im vergangenen Monat veröffentlichte, erklären nur noch 30,3 Prozent der Wahlberechtigten, sie würden für die AKP stimmen, gäbe es jetzt Wahlen. Das ist der Hintergrund von Erdogans Hagia-Sophia-Coup. Es ist ein Strohfeuer.
Nun arbeitet Erdogan an einem Plan mit drei Säulen. Da er der Wirtschaftskrise nicht Herr wird, versucht er den Eindruck zu erwecken, die Wirtschaft laufe gut. Vergangene Woche kam es zu einem heftigen Devisenschock. Der Kurs, den die Regierung durch Verkauf von Devisenreserven der Zentralbank zu beruhigen versucht hatte, ging durch die Decke, als die Staatskasse leer war. Innerhalb von nur zwei Jahren haben wir die Sortenreserven der Zentralbank von achtzig Jahren aufgezehrt. Ausländische Investoren, die das mitbekamen, machten in der ersten Jahreshälfte Aktiva von nahezu 15 Milliarden Dollar flüssig und zogen sich aus der Türkei zurück. Heimischen Investoren blieb nichts anderes übrig, als in Devisen zu investieren, um nicht mit ansehen zu müssen, wie die Lira in ihren Taschen dahinschwinden. Innerhalb weniger Tage büßte die Lira beinahe zehn Prozent an Wert ein.
Die Turbulenzen bei den Wechselkursen betreffen in diesem Land nicht bloß die Finanzwelt. Sie wirken sich auf jeden Bürger aus. Unsere Energieversorgung ist vom Ausland abhängig, jede Kursänderung schlägt sich auf die Treibstoffpreise nieder, was wiederum bei sämtlichen Produkten in den Supermarktregalen spürbar wird. Dank Erdogan ist auch die Maut aller von regierungsnahen Bauunternehmen errichteten Brücken devisen- indiziert. Ebenso eine der besonderen „nationalen“ Pflichten: die Summe für den Freikauf vom Wehrdienst. Steigen Dollar und Euro, werden wir alle ein wenig ärmer. Erdogan konnte das nicht ändern, also stellte er sich vor die Hagia-Sophia-Moschee und erklärte: „Die Türkei ist auf einem Höhenflug. Leute, die Augen haben und das nicht sehen wollen, versuchen, diese Tatsachen falsch darzustellen. Die Türkei startet durch. Die Türkei ist nachgerade auf einem Höhenflug.“ Wie es um diesen bestellt ist, erläuterte er anhand der Zahl im Land verkaufter Kühlschränke. Als wüsste er nicht, dass die Kühlschränke leer sind.
Täglich steigt das Risiko eines Feuergefechts
Auch die jüngsten Arbeitslosenzahlen sind à la Erdogan deformiert. Obwohl nach Angaben des staatlichen Statistikamts die Zahl der Beschäftigten um rund 2,5 Millionen abnahm, gibt es bei den Arbeitslosenzahlen gefühlt keinen Anstieg. Wie kann das sein? Ganz einfach: Unser Staat nimmt alle, die die Hoffnung auf einen Job aufgegeben haben, aus der Statistik. Und das, obwohl die Zahl jener, die sich keine Hoffnungen mehr auf einen Arbeitsplatz machen, in einem Jahr um 143 Prozent gestiegen ist.
Den zweiten Schritt zur Änderung der politischen Szenerie versucht Erdogan außenpolitisch zu setzen. Er hat in diversen Krisenregionen große Risiken auf sich genommen und hofft auf einen diplomatischen Triumph. Doch wo soll der herrühren? In Syrien steckt die Türkei fest, sie hat nur zugeschaut, als die Kurden in Kooperation mit den Vereinigten Staaten ihr Erdöl auf den Weltmarkt brachten. Die Schritte in Libyen gerieten ins Stocken, als Russland intervenierte. Wir zahlen einen hohen Preis dafür, dass wir gegen den Westen die Russland-Karte gezogen haben. Die für 2,5 Milliarden Dollar gekauften S-400-Raketen lassen wir in den Hallen verrotten. Im April sollte das System einsatzbereit sein, der Staat aber verschob den Termin „wegen der Pandemie“. Offenbar braucht es sozialen Kontakt mit den Raketen. Sowenig wir die Raketen benutzen können, die uns ein Vermögen gekostet haben, so wenig bekommen wir eben darum von den Vereinigten Staaten die F-35-Kampfjets, für die wir bereits 1,25 Milliarden Dollar bezahlt haben.
Mit der Krise im östlichen Mittelmeer läuft es nicht anders. Dank Erdogans aggressiven Aktionen verbündeten sich nach zweihundert Jahren Ägypten und Griechenland gegen die Türkei. Täglich steigt das Risiko eines Feuergefechts. Erdogan würde nicht davor zurückschrecken. Ihm ist jedes Mittel, Unterstützung zu generieren, recht.
Versuch der Spaltung der Opposition
Der dritte Weg, den Erdogan eingeschlagen hat, ist die Zerschlagung des oppositionellen Blocks. Die von der größten Oppositionspartei CHP gemeinsam mit der gemäßigt nationalistischen Iyi-Partei angeführte Allianz hatte Erdogan bei den Kommunalwahlen im vergangenen eine große Schlappe beigebracht. Fast alle Metropolen gingen an das Bündnis der Opposition. Erdogan setzt verschiedene Taktiken ein, um den gegen ihn gerichteten Block zu zerschlagen. Über die mit ihm alliierte MHP rief er die Iyi-Partei auf: „Verlasst das Bündnis, kommt zu uns!“ Noch gestern hatten sie die Iyi-Partei beschuldigt, die politische Säule der Gülen-Terrororganisation Fetö zu sein und mit der PKK gemeinsame Sache zu machen, jetzt luden sie sie ein, sich ihnen anzuschließen. Die von MHP-Chef Bahçeli ausgesprochene Einladung wiederholte Erdogan einen Tag später. Er beabsichtigt, die Iyi-Partei aus dem oppositionellen Block herauszulösen und die CHP so hinzustellen, als mache sie gemeinsame Sache mit der HDP, die für ihn gleichbedeutend mit der PKK ist. Auch die Spaltung der CHP wird betrieben. Über die Palastmedien wird die geplante Parteigründung von Muharrem Ince protegiert, einem parteiinternen Kritiker der CHP, auch wenn das Projekt in der Gesellschaft kaum Widerhall findet.
Wie lange die jüngsten drei Kaninchen leben, die Erdogan aus dem Hut zieht, ist auch ein Hinweis darauf, wann die Türkei sich wieder in Richtung einer echten Demokratie bewegen wird.
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe.