Digitales Lernen : Abgeordnete mit verbundenen Augen
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Schüler mit Tablet im Unterricht. Zukunftmusik, über deren Risiken man ebenso realistisch informiert sein sollte, wie über die Vorteile. Bild: dpa
Computer sollen in den Klassenzimmern Einzug halten. Welche Risiken birgt das? Ein Bericht des Bundestages will es nicht so genau wissen und redet der Industrielobby nach dem Mund.
2016 scheint das Appelljahr für die Digitalisierung von Schulen und Hochschulen zu werden. Industrie und Bundesregierung wollen die Bildungseinrichtungen wachrütteln. „Programmieren gehört auf alle Lehrpläne“, forderte Telekom-Chef Timotheus Höttges im April beim Forschungsgipfel. Angela Merkel mahnte gerade erst „verpflichtenden Computerunterricht in der Grundschule“ an. Ende des Jahres dreht sich auch der Nationale IT-Gipfel nur um die digitale Bildung. Die Schulen sollen offenbar im Eiltempo nachholen, was Industrie und Politik lange verschlafen haben.
Der Bundestag hat nun einen Bericht „Digitale Medien in der Bildung“ schreiben lassen. Auftraggeber war der Bildungsausschuss, der auch für „Technikfolgenabschätzung“ zuständig ist. Darunter versteht man gemeinhin das Erörtern von sozialen Chancen und Risiken einer neuen Technik. Fast wollte man aufatmen, dass das hohe Haus einen Moment innehält, um die Konsequenzen digitalisierter Klassenzimmer aufzuzeigen. Aber der Bericht des „Büros für Technikfolgenabschätzung“, der dieser Zeitung vorliegt, bezieht sich fast ausschließlich auf die guten Hoffnungen des Lernens mit Tablets, Blogs und Games. 245 Seiten zählt der Bericht, keine fünf davon thematisieren Risiken. Das Papier, das am Mittwoch im Ausschuss diskutiert wird, ist keine kritische Würdigung, sondern ein reiner Potentialbericht.
Roboter, die mit den Kindern lernen
Er definiert Familien, Schulen und Hochschulen als Bereiche, in denen das „allgegenwärtige Social Web“ das Leben von Kindern und Jugendlichen massiv verändert. Das reicht von sogenannten „Open Educational Resources“ (also dem „digitalen Schulbuch“) über Apps und Webvideos bis hin zu Zukunftstechnologien für Bildungsmedien. Letzteres meint unter anderem den Einsatz „künstlicher Intelligenz“ fürs Lernen. Beispiele sind Puppen oder Roboter, die mit Kindern lernen und gleichzeitig den Lernfortschritt in Bild und Ton dokumentieren. Allein hier gäbe es Anlass für interessante Fragen zur Totalspeicherung ganzer Bildungsabschnitte. Der Bericht belässt es aber bei einer Beschreibung. In Teilen übernimmt er sogar die Interpretationen der Herstellerfirmen.
Die Fraktion, die den Bericht anregte, hatte sich mehr gewünscht. Der Einzug neuer Technologien verändere Lebensweise und Kommunikation von Menschen grundlegend, sagt Rosemarie Hein von der Links-Fraktion im Gespräch. „Diese Veränderungen und ihre Folgen wollten wir abgewogen wissen.“ Dass das nicht stattgefunden hat, räumen auch Abgeordnete ein. Der Bericht sei eine „gute Übersicht, aber nicht sehr aktuell“, sagt Sven Volmering von der CDU. „Einerseits“, sagte der Grünen-Abgeordnete Özcan Mutlu, werde „die Auslobung von Leuchtturmprojekten empfohlen“, andererseits werde das „als Projektitis“ abgelehnt. „Nötig ist dagegen ein Masterplan Digitale Bildung.“
Stichwortgeber ist die Industrielobby
Bei Experten fällt die Studie durch. Die Deutsche Kinderhilfe begrüßte auf Anfrage, dass der Bundestag sich mit digitalen Medien befasst. Allerdings seien „die eigentlichen Gefahren und Risiken für Kinder und Jugendliche“ aus den Augen verloren worden: Cyber-Mobbing, Sexting und Cybercrime. Deutschlands bekanntester Cyberpolizist, der Brandenburger Kriminologe Thomas-Gabriel Rüdiger, vermisst kompetente Aufklärung an Schulen über das zurzeit beliebteste Kinderspielzeug, die digitalen Spiele. „Kommunikationsrisiken von Online-Games, bei denen Kinder mit ihnen unbekannten Erwachsenen spielen, werden kaum erwähnt“, sagt Rüdiger.
Aber auch beim Lernen selbst bekommt das Papier keine guten Noten. Digitales Lernen werde zu sehr als „geräte- und technikabhängiger Prozess verstanden“. Es müsse aber an seinem pädagogischen Nutzen für Schule und Unterricht gemessen werden, sagt René Scheppler, ein Vorreiter digitalen Lernens, der lange für die Digital-Initiative „D21“ Lehrerfortbildungen organisierte. In der Tat verwundern die Quellen der Autoren. Wichtigster Stichwortgeber ist ausweislich der Literaturliste die Industrielobby Bitkom. Wichtige kritische Autoren fehlen dort hingegen. Der Berichterstatter der CDU für Technikfolgenabschätzung, Philipp Lengsfeld, sagte, man dürfe den Bericht nicht isoliert betrachten, sondern müsse ihn im Licht anderer sehen, etwa einem Bericht zu digitalen Medien und Sucht.
So schlimme Dinge will man nicht wissen
Der Arbeitsbericht setzt indes eine ganz andere Tradition fort – die des Wegschauens. Schon die Enquetekommission des Bundestags zu Internet und Digitaler Gesellschaft hatte in der letzten Wahlperiode keine eigene Gruppe für Risiken und Nebenwirkungen eingerichtet, und das, obwohl sie sich großzügig von vier auf vierzehn Arbeitsgruppen erweitert hatte. Nach einer Phase, in der die Politik alles Digitale als Schund ansah, schlägt das Pendel nun in die andere Richtung.
Das treibt seltsame Blüten. In dem Bundestagsbericht werden auf wenigen Zeilen sogenannte Kontaktrisiken erwähnt, die entstehen, „wenn Unbekannte mit zweifelhaften Absichten (z.B. sexueller Natur) mittels digitaler Kommunikationsmedien Kontakt zu Jugendlichen aufnehmen“. Für solche „zweifelhaften Absichten“ im Netz gibt es einen Begriff: Cybergrooming, die gezielte sexualisierte Ansprache von Kindern und Jugendlichen, etwa in Chats oder Online-Spielen. Eine Studie im Auftrag des Familienministeriums (Mikado) hat 2015 zutage gefördert, dass es Hunderttausende Kommunikationen sexueller Art zwischen Erwachsenen und Minderjährigen im Netz gibt. Begegnen sich die ungleichen Chatpartner danach in der realen Welt, so das Ergebnis von Mikado, „kam es in hundert Prozent der Offline-Treffen mit Kindern zu sexuellen Handlungen“. Eine Bundestagsabgeordnete und junge Mutter reagierte darauf mit Entsetzen: Solche furchtbaren Sachen wolle sie lieber gar nicht wissen.
Die Abgeordneten, so scheint es, erforschen das Netz am liebsten mit verbundenen Augen.