Depression macht keine Mörder : Die Angst, die wir verschüttet glaubten
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Depressive Störungen kommen sehr häufig vor – die Betroffenen darf man deshalb aber nicht als unberechenbar ansehen. Bild: Reuters
In das Gehirn des Unglückspiloten können wir nicht sehen. Psychische Leiden machen jedenfalls keinen zum Massenmörder. Zur Trauer und Wut gehört deshalb ein Appell: die Kranken nicht stigmatisieren!
Wenn eine Handlung unser Fassungsvermögen sprengt, ist unsere erste Reaktion häufig: Das ist nicht normal! Das kann nur die Tat eines psychisch Kranken, eines Geisteskranken sein! Nun wissen wir, dass die grausamsten Massenmorde in Krieg und Bürgerkrieg die Taten sogenannter Normaler sind.
Wie ist das aber beim sogenannten erweiterten Suizid, wie er hier nun weiterhin im Raume steht? Vier von fünf Selbsttötungen werden von Menschen mit psychischen Störungen begangen – meist von Menschen mit depressiven Erkrankungen, seltener mit depressiver Symptomatik bei schizophrenen Psychosen. Auch wenn die Krankheit nicht der einzige Grund, nicht das einzige Motiv sein muss. Die bekanntgewordenen Hintergründe der Katastrophe in den Alpen legen nahe, dass der Todespilot an einer solchen Erkrankung gelitten hat. Klar ist auch, dass er zum Zeitpunkt des Absturzes krank, also arbeitsunfähig geschrieben war, dass sein behandelnder Arzt überzeugt davon war, dass er deswegen nicht fliegen würde, und dass der Kranke sich über dieses ärztliche Flugverbot hinweggesetzt hat.
War das ein Akt der Selbsttäuschung? Oder war das der Beginn der suizidalen Handlung, der erste Schritt eines „präsuizidalen Syndroms“, wie es in der Fachsprache heißt? Eines Zustandes also, in dem die Fähigkeit des Betroffenen, die Verantwortung für sein Handeln zu tragen, eingeschränkt oder gar aufgehoben war? Wir wissen es nicht – zumindest nicht in diesem konkreten Fall. Wir wissen aber, dass so etwas in der Geschichte der neueren Passagierluftfahrt nicht zum ersten Mal geschehen ist. Mindestens vier unaufgeklärte Abstürze von Passagierflugzeugen der vergangenen zwanzig Jahre legen den Suizid des verantwortlichen Flugzeugführers als wahrscheinliche Ursache nahe. Außerdem berichtet die amerikanische Aviation Administration laut „Washington Post“ über 24 Fälle, in denen Piloten von kleineren Flugzeugen sich in den letzten zwanzig Jahren während eines Fluges das Leben genommen haben.
Mehr als jeder Zehnte von uns erkrankt
Es besteht kein Zweifel, dass Menschen, die an depressiven oder anderen psychischen Störungen leiden, in manifesten Phasen solcher Erkrankungen weder fliegen noch Busse oder Züge führen dürfen. Nicht einmal vorrangig wegen des möglichen Suizidrisikos, sondern wegen möglicher krankheitsbedingter Einschränkungen der Reaktions- und Kommunikationsfähigkeit. Das gilt in gleicher Weise für Menschen mit Anfallsleiden, schwer einstellbarem Diabetes, schwerwiegenden Herz-Kreislauf-Problemen oder gravierenden Sehstörungen. Aber das bedeutet nicht, dass man Menschen mit psychischen Erkrankungen undifferenziert als ständig suizidgefährdet, als Gefahr für Dritte oder gar als „unberechenbar und gefährlich“ betrachten darf.