David Grossman über Israel : Im Zugriff des Chaos
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Itamar Ben-Gvir und seine Anhänger feiern das Ergebnis ihrer Partei „Jewish Power“ bei den jüngsten Parlamentswahlen in Israel. Bild: AP
Die sich abzeichnende Regierung unter Benjamin Netanjahu wird alles zunichtemachen, was ich mir für mein Land erträumt habe. Ein Gastbeitrag.
Alles, was seit der Wahl in Israel geschah, ist angeblich legal und demokratisch. Aber unter diesem Deckmantel wurde – wie schon mehr als einmal in der Geschichte – die Saat des Chaos, der Leere und der Unordnung in den wichtigsten israelischen Institutionen gestreut.
Ich spreche hier nicht nur von der Verabschiedung neuer Gesetze, so extrem und empörend sie auch sein mögen, sondern von einer tieferen verhängnisvollen Veränderung, einer unserer Identität und des Wesens des Staates. Und diese Veränderung stand nicht zur Wahl. Dafür sind die Israelis nicht an die Urnen gegangen.
Während der Verhandlungen zur Bildung einer neuen Regierung ging mir immer wieder ein Spruch aus dem Buch Jesaja durch den Kopf: „Wehe denen, die das Böse gut und das Gute böse nennen, die Finsternis in Licht und Licht in Finsternis verwandeln, die Bitteres in Süßes und Süßes in Bitteres verwandeln!“ Im Hintergrund höre ich ständig, gleich einer chinesischen Wasserfolter, den Knessetabgeordneten Moshe Gafni verkünden: „Die Hälfte des Volkes wird Tora studieren, und die andere Hälfte wird in der Armee dienen.“ Und jedes Mal verkohlt mein Hirn, diesmal aus ganz anderen Gründen.
Die Koalitionsverhandlungen, die eher einem Raubzug glichen, flackern vor unseren Augen auf, in Blitzen einer fremden, provozierenden Logik: „die Aufhebungsklausel“, „Smotrich wird Schiedsrichter über Bauvorhaben im Westjordanland sein“, „Ben-Gvir“ wird eine private Miliz im Westjordanland aufstellen können“, „der Serienverbrecher Dery wird . . .“ Alles in einem einzigen Wimpernschlag, mit zunehmender Begeisterung, mit dem Geschick eines Hütchenspielers auf der Straße.
Wir wissen, dass wir betrogen werden
Wir wissen, dass uns gerade jemand betrügt. Dass jemand nicht nur unser Geld in die eigene Tasche steckt, sondern auch unsere Zukunft und die unserer Kinder, jene Existenz, die wir hier schaffen wollten: einen Staat, in dem trotz all seiner Mängel, Unzulänglichkeiten und blinden Flecken gelegentlich die Möglichkeit durchschimmert, ein zivilisiertes, egalitäres Land zu werden, eines, das die Kraft hat, Widersprüche und Unterschiede zu absorbieren, eines, das es mit der Zeit sogar schaffen wird, sich vom Fluch der Besatzung zu befreien. Ein Land, das jüdisch und gläubig und säkular sein kann, eine Hightech-Macht und traditionell und demokratisch, und auch ein gutes Zuhause für Minderheiten. Ein israelischer Staat, in dem die Vielfalt gesellschaftlicher und menschlicher Dialekte nicht zwangsläufig Ängste, wechselseitige Bedrohungen und Rassismus hervorruft, sondern zu gegenseitiger Befruchtung und Blüte führt.
Jetzt, nachdem sich der Sturm gelegt hat, nachdem das Ausmaß der Katastrophe offenkundig geworden ist, redet sich Benjamin Netanjahu womöglich ein, dass er, weil seine Chaos-Saat aufgegangen ist und das Rechtssystem, die Polizei, das Bildungswesen und all das, was einen Hauch von „Linkssein“ verströmt, zerstört hat, in der Lage sein wird, die Uhr zurückzudrehen, die verrückte, verlogene Weltsicht, die er selbst geschaffen hat, auszulöschen oder zumindest zu korrigieren und uns wieder auf ordentliche legale Weise zu führen. Er wäre dann wieder der verantwortungsvolle Erwachsene in einem gut geführten Land.
Es gibt kein Zurück mehr zur Hoffnung
Aber an diesem Punkt dürfte er feststellen, dass es von dem Ort, an den er uns geführt hat, kein Zurück mehr gibt. Es wird unmöglich sein, das Chaos, das er angerichtet hat, zu beseitigen oder auch nur zu bändigen. Seine Chaos-Jahre haben bereits etwas greifbar Beängstigendes in die Realität geätzt, in die Seelen der Menschen, die sie durchlebt haben.
Sie sind da. Das Chaos ist da, mit all seiner Sogkraft. Der innere Hass ist da. Die gegenseitige Abscheu ist da, ebenso wie die grausame Gewalt auf unseren Straßen, in unseren Schulen und Krankenhäusern. Auch die Menschen, die Gutes böse und Böses gut nennen, sind schon da.
Und auch die Besatzung wird in absehbarer Zeit nicht enden; sie ist schon jetzt stärker als alle Kräfte, die auf der politischen Bühne aktiv sind. Was dort begann und mit großer Effizienz verfeinert wurde, sickert nun hier ein. Der klaffende Schlund der Anarchie hat seine Zähne in die zerbrechlichste Demokratie des Nahen Ostens geschlagen.
David Grossman, geboren 1954 in Jerusalem, ist Schriftsteller. Zuletzt erschien sein Roman „Was Nina wusste“ (Hanser Verlag).
Aus dem Englischen von Andreas Platthaus.