
Ein „Fall Foucault“? : Totengericht
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Michel Foucault (1926 - 1984) auf einer undatierten Aufnahme. Bild: Picture-Alliance
Ein Vorwurf macht die Runde, dass der Philosoph Michel Foucault Ende der sechziger Jahre in Tunesien Kindesmissbrauch begangen habe. Erhärten ließ er sich nicht. Aber Verdachtsmomente werden gewogen.
Die Anschuldigung findet sich in einem vor zwei Monaten erschienenen Buch mit dem Titel „Mon dictionnaire du Bullshit“. Dort schreibt der französische Wirtschaftsfachmann und Publizist Guy Sorman, dass sich der 1984 verstorbene Philosoph Michel Foucault Ende der sechziger Jahre im tunesischen Sidi Bou Saïd Kinder und Halbwüchsige für sexuelle Dienste gekauft habe. Mit einiger Verzögerung zündete diese Passage in den Feuilletons und sozialen Netzwerken. Ein ungeheurer Verdacht schwebe schließlich über einem der bekanntesten französischen Intellektuellen, der es zu weltweiter Wirkung – und vor sechs Jahren sogar als moderner Klassiker in die Bibliothèque de la Pléiade – brachte.
Es ist kein Geheimnis, dass literarische Größen der Pariser Szene in Afrika sexuellen Freiraum suchten. Das waren, bei aller erotischen Begeisterung, die etwa noch bei André Gide oder auch später in den Aufzeichnungen von Roland Barthes spürbar wird, von jeher keine symmetrischen Beziehungen. Die einen hatten das Geld, für die anderen war es zumindest auch, für viele vermutlich in der Hauptsache eine Einnahmequelle. Dass man als in die Jahre gekommener Mann für Sex mit jüngeren Männern jedenfalls bezahlen müsse, hielt Foucaults Freund Barthes freimütig und traurig fest. Es ist dieser Hintergrund, der den Verdacht schärft und die Frage mitschwingen lässt, wie jung die Sexualpartner mitunter vielleicht waren.
Geht es damit um das Werk?
Guy Sorman hat auf einsetzende Nachfragen allerdings keine stichhaltigen Belege für seine Anschuldigung geliefert, sondern einen Spaziergang mit Foucault ins Feld geführt, bei dem Jungen im Alter von acht bis zehn Jahren um die beiden herumgesprungen und „Nimm mich!“ gerufen hätten, worauf sie Foucault für den Abend an den „üblichen Ort“ bestellt habe. Und schnell wird von anderen etwa ins Bild gerückt, dass Foucault in späteren Jahren seine Homosexualität recht exzessiv in einschlägigen Clubs auslebte; oder der von ihm mit vielen anderen unterzeichnete, 1977 in „Le Monde“ publizierte offene Brief für ein einheitliches Mindestalter bei einvernehmlichem Sex erwähnt.
Ein Beweis für Kindesmissbrauch wird daraus nicht. Trotzdem soll die beschriebene Szene für die Feststellung reichen, so formulierte es Sorman, ob ein Autor ein Schweinehund war oder nicht, und das zu wissen sei doch wichtig. Worauf die naheliegende Nachfrage lautet: Vielleicht, aber wofür genau? Zumindest nicht für ein Urteil über das Werk dieses Autors. Was man an dessen Gedanken auszusetzen hat, das muss man schon am Text zeigen und sich nicht über den Umweg eines postumen Gerichts über die Lebensführung seines Urhebers organisieren.
Und in extremis ist der unbequeme Gedanke nicht beiseitezusetzen, dass in der einen oder anderen Hinsicht moralisch desavouierte Autoren trotzdem solche von Bedeutung sein können. Selbst wenn man ihn, weil sich das von Sorman in Umlauf gesetzte Gerücht nicht verifizieren ließ, bei Foucault noch nicht in Anschlag bringen muss.