Polens Opposition : Wer hat Platz in diesem Land?
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Bild: action press
Was geschieht, wenn Rechtspopulisten regieren? In Polen werden Heimatliebe, die Verehrung der richtigen Helden und neuer Nationalismus verordnet wie Medizin. Die Opposition bleibt machtlos.
Rechtsruck, Nationalismus, aggressiver Populismus: Je nachdem, aus welcher Perspektive man das Phänomen betrachtet, wird die Länderliste immer länger. Unter der Überschrift „Brüder im Geiste“ steckte eine Infografik im „Spiegel“ nicht weniger als fünfzehn Fähnchen in die europäische Landkarte: fünfzehn schwarze Punkte des Populismus, von Norwegens Fortschrittspartei und den benachbarten Schwedendemokraten im Norden bis zur italienischen Lega Nord im Süden. Stationen auf diesem Weg: Frankreichs Front National, Österreichs FPÖ, die Schweizerische Volkspartei und die britische Ukip bis zur deutschen AfD. Europa, ein einziger Gefährdungsherd.
Manche der Rechtsausleger, so könnte man argumentieren, sind ein vertrauter Anblick und bieten lediglich alten Sezessionsgelüsten ein ideologisches Dach, so im Fall Italiens oder der belgischen Vlaams Belang. Die „Flämischen Interessen“, wie sie auf Deutsch heißen, sind in den vergangenen sechs Jahren fast auf Splittergruppenniveau geschrumpft, weil eine moderatere Bewegung ihnen den Rang abgelaufen hat, und erreichen bei Wahlen nur noch drei bis sieben Prozent. Ein Trost ist das kaum, zumal das Donald-Trump-Spektakel der letzten Monate die Befürchtungen der bürgerlichen Mitte, wohin die Welt denn treibe, deutlich gesteigert hat.
Ein Gutteil des tiefsten Südeuropas, wo man traditionell die Sorgenkinder vermuten würde - Spanien, Portugal, Griechenland -, ist von Rechtspopulisten bisher verschont geblieben und scheint zumindest das Argument Lügen zu strafen, die xenophoben Vereinfacher wüchsen auf dem Nährboden von Armut und sozialer Ungleichheit. Die Zahl der Zuwanderer allein kann es auch nicht sein; oft scheint es sogar, die Abwesenheit realer Migration sei die Voraussetzung für das ungestörte, an keiner Wirklichkeit messbare Ressentiment gegen Flüchtlinge.
Differenzierung tut not
In Osteuropa dagegen - Polen, Slowakei und Ungarn - stellen Rechtspopulisten sogar die Regierung. Sie zwingen jeden, der sich mit Europas Zukunft befasst, zu neuem Nachdenken. Aber ist es so einfach? Nicht alles, was populistisch anmutet, lässt sich zu einer schneeballartig anwachsenden europäischen Bewegung hochrechnen. Differenzierung tut not. Oft ist sie nur zu haben, wenn man sich mit mentalitätsspezifischen Eigenheiten und den besonderen geschichtlichen Voraussetzungen der jeweiligen Länder beschäftigt.
Wir fahren nach Krakau und Warschau, um uns bei der Kaczyński-Opposition umzuhören, bei Schriftstellern, Politologen und Aktivisten. Es gibt ein ermutigendes Zeichen: Anfang Oktober haben viele tausend Menschen in zahlreichen polnischen Städten gegen die geplante Verschärfung des (ohnehin schon restriktiven) Abtreibungsgesetzes demonstriert. Es ist bisher der sichtbarste, bei weitem wirkungsvollste Protest gegen die Politik der Regierungspartei PiS (Recht und Gerechtigkeit).
Seit ihrem Wahlsieg vor einem Jahr hat die Kaczyński-Formation das Ruder herumgeworfen. Stolz, Heimatliebe, die Verehrung der richtigen Helden und neuer Nationalismus werden verordnet wie Medizin. Das „Eigene“ ist der neue Fetisch. Demnächst soll in der Schule Patriotismus als Pflichtfach hinzukommen. Die Demonstrationen des „Schwarzen Montags“ gegen das geplante Abtreibungsgesetz gehen unterdessen weiter. Hier sei Opposition einmal möglich, erzählen unsere Gesprächspartner: Das Thema betreffe viele. Das Netz ermögliche blitzschnelle Verabredungen, der Protest werde sichtbar und setze die Regierung unter Druck. Gleich unterhalb, so der Schriftsteller und Journalist Filip Springer, beginne das Problem. „Es gibt einen krassen Widerspruch zwischen politischem Aktivismus im Netz und der polnischen Wirklichkeit. Meine Freunde tragen Schwarz und sehen im Internet gut aus; aber die Politik selbst geht andere Wege und beweist, dass wir hilflos sind.“
Alles außer Warschau ist Provinz
Springer, Jahrgang 1982, ist Archäologe und schreibt über die Vernachlässigung des öffentlichen Raums. Wenn vom Charisma des früheren Ministerpräsidenten Donald Tusk von der Bürgerplattform (PO) die Rede ist, einem Liebling der westlichen Medien, wendet Springer ein, Polen habe sich dem Modernisierungstaumel überlassen und dabei die kleinen Leute vergessen - Menschen, die vor einem Jahr die Partei Jarosław Kaczyńskis gewählt haben. Von Sozialstaat und Wohnungsbau für die Ärmsten sei unter Tusk kaum etwas zu sehen gewesen, umso mehr von Korruptionsskandalen. Sprichwörtlich wurde die Einführung des Pendolino: Der Vorzeigezug aus Italien mit dem hochtönenden Namen „Express Inter City Premium“ ging vergangenes Jahr auf ausgewählten polnischen Hauptstrecken in Betrieb. Aber er erreicht nur auf wenigen Abschnitten zweihundert Stundenkilometer, weil die polnischen Gleise veraltet sind. Der Glanz, erzählt Springer, sei außerdem teuer erkauft: Unprofitable Nebenstrecken sind geschlossen, die Gräben zwischen Stadt und Land tiefer geworden. Man fühlt sich an einen Satz des deutschen Kabarettisten und Polen-Kenners Steffen Möller erinnert: Alles außer Warschau ist in Polen Provinz.
Die Verheißungen Europas haben im selben Maß an Glanz verloren, wie die EU ihrerseits unter Legitimationsdruck geriet und alle begriffen, dass die Mitgliedsstaaten sich in unterschiedlichem Tempo entwickeln. Wer in Polen Bücher schreibt, Kunst oder Theater macht, also mit staatlicher Kulturpolitik in Berührung kommt, sieht die Freiheiten täglich schrumpfen. Vielleicht steht deshalb das Genre der literarischen Reportage hoch im Kurs. Dabei geht es weniger um Bestsellererfolg als um den Drang, Zeugnis von einer sich radikal verändernden Wirklichkeit abzulegen.
Zu intellektuell, um eine Chance zu haben
Ein Vertreter dieses Autortyps ist Ziemowit Szczerek, 37 Jahre alt, den wir in einem Musikclub in der Krakauer Altstadt treffen. Szczerek spricht von der „postkolonialen“ Haltung der Regierungspartei. Die PiS wolle Polen markant als Nation mit eigenen Interessen zwischen Russland auf der einen und Deutschland auf der anderen Seite positionieren. Das sei egoistisch, komme aber gut an. Als urbane Gegenkraft hat sich Razem (Gemeinsam) gebildet, eine junge Linksformation nach dem Vorbild der spanischen Podemos, mit der Razem auch die violette Parteifarbe teilt. Doch Razem, sagt Szczerek, sei zu klein, zu städtisch, zu intellektuell, um eine wirkliche Chance zu haben.
Ziemowit Szczerek spricht neben Polnisch auch Englisch, Russisch und Ukrainisch. Über die Ukraine, sein Spezialgebiet, hat er zwei Reportagebücher veröffentlicht. Zur Zeit lernt er Ungarisch, weil er die Verhältnisse dort besser verstehen will. Szczerek sagt, Kaczyński sei nicht einfach ein „Populist“, er sei nur in das politische Vakuum gestoßen, das die Vorgängerregierung entstehen ließ. Eine Linke westeuropäischen Zuschnitts gebe es in Polen nicht.
Das berichtet auch Marta Tycner, eine Sprecherin von Razem. Eigentlich waren wir in der neuen Warschauer Parteizentrale, wenn das Wort nicht zu hoch gegriffen ist, mit der Pressesprecherin Teresa verabredet, doch Teresa hat plötzlich keine Zeit. Marta hat eigentlich auch keine Zeit; ihr fünfjähriger Sohn streift durch die Flure, in denen Pappkartons gestapelt sind und gewaltfreie WG-Atmosphäre herrscht. Immer wieder kommt der Kleine herein, unterbricht unser Gespräch und zieht wieder ab. Marta entschuldigt sich. Sie sei alleinerziehende Mutter. In der Partei werde damit ganz gut umgegangen. Im Foyer hocken ein paar junge Leute auf dem Boden, die Plakate mit violetten Lettern für die nächste Demo malen, aber sie lassen Martas Kleinen nicht mitmachen.
Gegen Stars und Ego-Kult
Razem hat, wie so viele Bewegungen, als Facebook-Seite angefangen. Dann wurde aus dem Engagement im Netz plötzlich Ernst. Obwohl der Einzug ins Parlament verfehlt wurde, gelten 3,6 Prozent der Stimmen beim ersten Antreten als beachtlicher Erfolg. Medienwirksame Führungsfiguren werden bei dieser Partei genauso misstrauisch betrachtet wie in den Gründerjahren der deutschen Grünen: Das Kollektiv mag keine Stars und keinen Ego-Kult. Ein Gutteil des Erfolgs wird jedoch Adrian Zandberg gutgeschrieben, der einen legendären Fernsehauftritt hingelegt und die Partei berühmt gemacht hat.
Wie amateurhaft es bei allem Schwung dennoch zugeht, zeigt ein Verfahrensfehler, durch den Razem kürzlich 2,5 Millionen Euro staatlicher Parteiförderung verspielt hat. Marta versucht erst gar nicht, die Dummheit zu entschuldigen. „Eigentlich wollen wir ja keine Macht“, sagt sie. „Wir wollen Wandel.“ Wie denn das Zweite ohne das Erste gehen solle, fragen wir. Marta wiegt den Kopf. Da liegt der Hase im Pfeffer, sagt ihre Geste. Und die Sache mit dem Geld sei fürchterlich, es fehle an allen Ecken und Enden. Jeder im neunköpfigen Führungsgremium erhalte genau den polnischen Durchschnittslohn, also achthundert Euro netto. Dann fasst Marta die Ziele zusammen: Die Rechte der Arbeiter müssten gestärkt werden; unbefristete Anstellung statt der heute üblichen Ramschverträge; günstige Sozialwohnungen; Erhöhung des Mindestlohns; Veto gegen TTIP; Kampf gegen Fremdenfeindlichkeit. Razem, so viel steht fest, ist eine Partei, die noch viel tun muss, um ihre Basis zu verbreitern.
Deutsche Besorgnis über Populismus
Dass für eine sozialstaatlich orientierte Linke in Polen wenig Platz ist, bestätigt auch Magdalena Kicińska, eine junge Journalistin, die für Polens größte Tageszeitung, „Gazeta Wyborcza“, schreibt. Es sei unklar, welche Werte noch Geltung hätten. Beispiel: Während die Abtreibungsdebatte viele Leute auf die Straße bringe, interessiere sich die Mehrheit der Polen kaum dafür, wie die Regierung das Verfassungsgericht demontiere. Die Venedig-Kommission des Europarats hat an dem Gesetzentwurf der PiS beanstandet, er schränke die Unabhängigkeit des obersten Verfassungsorgans erheblich ein und sei mit EU-Recht nicht vereinbar. Bundestagspräsident Lammert nannte ihn „einen Irrweg für Europa und damit auch für Polen“.
„Wir haben keine gute Stimmung hier“, sagt Magdalena Kicińska. Die Atmosphäre radikalisiere sich. Im Sommer seien auf einer Demonstration von Faschisten Sätze wie „Hängt die Linken auf!“ skandiert worden. Dabei ist die ONR („Obóz Narodowo Radykalny“ oder National-Radikales Lager) nur eine von mehreren faschistischen Gruppierungen in Polen. Es gebe Augenblicke, sagt Magdalena Kicińska, da sie sich frage, ob in ihrem eigenen Land überhaupt noch Platz für sie sei.
Auffällig ist, dass fast alle Gesprächspartner die polnische Rechtsregierung unter eigenen Bedingungen und nicht als Ausdruck eines neuen europäischen Populismus betrachten. Die deutsche Besorgnis über eine unheimliche deutsch-polnische Allianz der Populisten gehe an der Wirklichkeit vorbei, sagt die Deutschland-Kennerin Agnieszka Łada, Leiterin der Europa-Abteilung des Instituts für Öffentliche Angelegenheiten, des größten unabhängigen Think Tanks in Polen. Niemand wisse wirklich, was im Kopf des PiS-Vorsitzenden vorgehe, der gleichsam aus der zweiten Reihe hinter der Ministerpräsidentin Beata Szydło regiert. Dann wird der Analystin klar, was sie da gesagt hat. Doch sie bleibt dabei. Kaczyńskis Auslandserfahrung sei minimal, sein Misstrauen enorm. Der Parteichef vertraue nur altgedienten Beratern, deren Loyalität über jeden Zweifel erhaben sei.
Das Land der permanenten Selbstvergewisserung
Dennoch. „Auch wenn die polnische Regierungspartei nationalkonservative Züge trägt, ist sie etwas grundsätzlich anderes als die AfD oder der Front National.“ Dann zählt Agnieszka Łada wesentliche Unterschiede auf: dass die PiS die Europäische Union nicht in Zweifel ziehe; dass sie mit sozialen Maßnahmen wie Kindergeld und Steuersenkung Ernst mache; dass die polnische Regierung Putin mit größtem Misstrauen betrachte und deswegen auch gegenüber Angela Merkel wieder freundlichere Töne anschlage. Mit der AfD wolle Kaczyński ganz sicher nichts zu tun haben.
„Viele Polen“, sagt Łada, die sich selbst als regierungskritisch einschätzt, „sind frustriert und fühlen sich nicht gewürdigt. Ihre Wirtschaftsreformen waren schwierig, doch noch immer haben sie weniger Wohlstand als das westliche Europa. Die PiS hat mit ihren Versprechen diese und andere Sorgen adressiert. Das ist einer der Gründe, warum so viele Menschen die Partei unterstützen.“
Ein Aspekt, der bei Deutschen oft für Kopfschütteln sorgt, ist der polnische Patriotismus. Doch gerade der ließe sich aus der Geschichte verstehen. Der polnische Dichter Tadeusz Dabrowski hat neulich in der „Neuen Zürcher Zeitung“ die Anziehungskraft der PiS unter anderem damit erklärt, die Nationalkonservativen böten dem Land endlich wieder eine „große Erzählung“ an, die einen Teil der Verunsicherung der Menschen lindere. Polen, das mehrmals geteilte und aufgelöste Land, das mehr als hundert Jahre seiner jüngeren Geschichte nur in der Imagination sowie in der Sprache der Poesie fortlebte, bedarf der permanenten Selbstvergewisserung. Schreiben, so hat der Dichter und Essayist Adam Zagajewski einmal formuliert, sei in Polen deshalb nie eine akademische, blutleere Hirntätigkeit gewesen, sondern „eher wie ein glühender, brausender Keramikofen, in dem, bei hohen Temperaturen und vor den Augen begieriger Zuschauer, vor den Augen aufmerksamer Polis-Bürger, die Gefäße von Poesie und Prosa gebrannt wurden“.
Als wir mit Zagajewski, Jahrgang 1945, beim Mittagessen sitzen, wird schnell klar, dass der Widerstand gegen die PiS-Regierung nicht allein bei der jungen Generation zu Hause ist. Für Kaczyńskis fieberhafte Gesellschaftsreformen hat der Dichter nur Spott übrig. Ganze Berufsstände, erzählt er, protestierten gegen die Beschneidung demokratischer Grundrechte - die Richter, die Ärzte, die Lehrer. Doch der Gegensatz zwischen Großstadt und Provinz sei schwer zu überbrücken. Außerdem habe Polen nur fünfzig Prozent Wahlbeteiligung. Intellektuelle verstünden sich stets als Außenseiter.
„Wir sind ein so katholisches Land“, sagt Adam Zagajewski, „dass wir weltweit Priester exportieren. Aber unsere wichtigsten Geistesmenschen stehen dem Katholizismus mit wenigen Ausnahmen fremd gegenüber. Die allermeisten Intellektuellen lehnen auch die Regierung ab. Wenn der Kulturminister sich zeigt, wird er ausgepfiffen. Ich habe durchaus damit sympathisiert, dass die frühere Regierung unter Donald Tusk sich nicht für wolkige Visionen zuständig fühlte, sondern für das warme Wasser in der Leitung. Aber für viele Menschen war das nicht genug.“