Wulff oder Gauck? : Wie man ein verdammt guter Politiker wird
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Sein Leben begann mit einem Happy End: Der Kampf mit dem Drachen steht erst noch bevor Bild: ddp
Joachim Gauck oder Christian Wulff - wen will das Wahlvolk wirklich? Politische Glaubwürdigkeit im neuen Medienzeitalter ist keine moralische, sondern eine literarische Kategorie. Nach diesem Kriterium scheidet Wulff als Held aus. Können wir das wollen?
„In einem kraftvollen Drama sind der Protagonist und der Antagonist gleich gut motiviert und einander ebenbürtig. Ein Konflikt kann sich nur entwickeln, wenn sich die Figur entwickelt.“ -- James N. Frey, „Wie man einen verdammt guten Roman schreibt“
Vergessen Sie die Schriften der Staats- und Verfassungslehrer, vergessen Sie die kraftvollen Analysen von Sternberger, Hennis oder Miegel, lassen Sie die Herren Falter, Korte, Lösche im Fernsehen ungerührt ins Leere sprechen, überspringen Sie den Politologen Franz Walter, der online jede Woche Analysen verbreitet. Sie alle reden darüber, was der Wähler will und was die Politik falsch macht. Es ist das Recht des Souveräns, sich wöchentlich, ja täglich bestätigen zu lassen, was er will und wie er die Politik beurteilt.
Die ewig wiederkehrenden Stereotypen über das, was das Volk will, verlangen nach der „Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede“, dem Aussprechen dessen, was Sache ist, dem Denken nicht nur in Wahlperioden, dem Ende des Gezänks, der großen Persönlichkeit. Wären wir da, wo wir wären, wenn das der innerste Wesenskern des Wahlvolkes wäre? Handelt die Politik nicht vielmehr nach dem Drehbuch, das wir ihr schreiben? Was wollen wir eigentlich wirklich; und was ist eine Politik, in der wir uns selbst wiedererkennen? Diese theoretische Frage hat seit ein paar Wochen zwei Namen bekommen: Gauck oder Wulff?
Man muss interessante Figuren schaffen
Man kann sie nicht mit Dolf Sternbergers politischen Schriften beantworten. Man muss das Genre wechseln. Von der Politik in die Unterhaltung, dahin, wo nicht nur, wie es schuldzuweisend heißt, die Politik, sondern wo vor allem die Wähler angekommen sind, die sich ihre Politik wählen. Ich nehme mir ein Buch vor, das vor mehr als zwanzig Jahren auf den Markt kam und ein Bestseller wurde. Es stammt von James N. Frey und trägt den Titel „Wie man einen verdammt guten Roman schreibt“. Man muss nur ein ganz klein wenig am Inhalt herumbasteln, und schon hat man ein anderes Buch: „Wie man ein verdammt guter Politiker wird“.
Frey zeigt, wie man eine Geschichte zusammenschraubt, die die Leute bei der Stange hält. Die Gesetze sind streng, aber einfach. Das Wichtigste: Keine Geschichte ohne Charaktere. Man muss Figuren schaffen, die die Leser interessant und glaubwürdig finden. „Wenn sie das nicht sind, klappt der Leser das Buch zu, und das wär’s dann gewesen.“ Es ist nicht zynisch, Techniken des Unterhaltungsromans auf die Politik anzuwenden.Es ist genau das, was die Öffentlichkeit tut. Eine Öffentlichkeit, die kurioserweise dabei selbst immer am besten wegkommt, denn sie will nichts anderes als die Wahrheit und eine Politik, die an die Kinder und Enkel denkt.
Sie will Politiker, die nichts mit Politik zu tun haben oder sie zumindest geschmacklos finden; sie honoriert den, der Überdruss zeigt, aber nicht den, der funktioniert, sie will Brüche und Unbequemes. Was für ein tolles Wahlvolk! Fragt sich nur, wer die Politiker wählt, die ihr all das genau vorenthalten. Nehmen wir den aktuellen Fall: Es gibt viele gute Gründe, für Joachim Gauck zu sein. Welche Gründe sprechen gegen Christian Wulff?
Hier die wichtigsten Bedingungen nach Frey, das Publikum bei Laune zu halten:
1. Sie sollten immer auf der Suche nach Hindernissen für Ihre Figuren sein. Die Spannung wird dadurch erhalten, dass die Hauptfigur über die volle Distanz geht, trotz der zahlreichen Hindernisse, die der Autor ihr in den Weg legt.
2. Wenn alle Erwartungen der Leser hinsichtlich einer Figur erfüllt werden, wenn es keine Widersprüche oder Überraschungen bei der Figur gibt, dann haben Sie eine stereotype Figur. Geben Sie Ihrer Figur Schuldgefühle, oder lassen Sie sie auch einmal scheitern.
3. Die Hauptfigur muss schwere Sünden oder große Qualen oder große Leidenschaften ertragen haben.
4. Die Hauptfigur muss ein Leben gehabt haben. Der Leser hat das deutliche Gefühl, dass sie längst da war, bevor der Roman begonnen hat.
Wer das liest, der erkennt: Wulff scheidet aus. Aber nicht aus politischen, sondern aus literarischen Gründen. Der Mann hatte keinen Skandal, war nicht verhaltensauffällig, hat kein Amt im Stich gelassen, allenfalls ist er geschieden, was aber jeder Romanheld heutzutage ist. 1976, noch als Schüler, hat er einen Leserbrief an die „Neue Osnabrücker Zeitung“ geschrieben und darin vor der Verharmlosung des „Unrechtsregimes der DDR“ gewarnt. Damit kann er unmöglich mit Gauck konkurrieren, dessen ganze erste Lebenshälfte ein einziges Hindernis war. Es geht nicht darum, nach Wulffs Vorzügen zu fahnden.
Es geht darum, was auf jeder Cocktailparty und jedem Grillfest und ganz bestimmt zwischen „Café Einstein“ und „Grill Royal“ gegen ihn spricht. Wulff hat funktioniert. Kein Hindernis außer Gerhard Schröder. Ergebnis: Wer ein verdammt guter Politiker sein will, muss öffentlich von Hindernissen leben. Hat er sie nicht, muss er sie sich selber schaffen. Wer Brüche hat, heiße er Käßmann oder Köhler, taugt dadurch erst zum Helden. Ergebnis: Baue dir Brüche in dein Leben ein! Und schließlich soll er ein Leben haben. Und das hat keiner intuitiv besser zum Ausdruck gebracht als Sigmar Gabriel: „Joachim Gauck bringt ein Leben mit in seine Kandidatur – und der Kandidat der Koalition bringt eine politische Laufbahn mit.“
Geschichten brauchen Spannung, Konflikte, Opposition
Nichts gegen den Helden Gauck, aber eine Öffentlichkeit, die sich mit solchen Kriterien abspeisen lässt, will nicht Politik, sondern Kunst, Film, Hollywood. Es fällt nicht schwer, in der aktuellen, völlig unpolitischen Debatte Züge des Selbsthasses eines bürgerlichen Milieus zu sehen, dessen größtes Abenteuer das Bungee-Springen in Australien war. Wir lesen Thriller, weil wir an einem Leben teilnehmen wollen, das aufregender ist als das unsere. Aber wollen wir das auch in der Politik? Und erzwingt diese mediale Erwartung nicht eine Politik, die nach den Gesetzen der aristotelischen Dramentheorie abläuft, aber nicht mehr nach den Gesetzen der Demokratie?
Geschichten brauchen Spannung, Konflikte, Opposition, nur dann werden sie „spannend“ – aber wollen wir wirklich eine Politik, die die Küchenversion eines John le Carré ist, in der die Schießerei mit dem Mobbing und der Schurke mit dem Goldfinger Seehofer aus München besetzt ist? Welches tolle Leben hatte denn Herr Gabriel, und wie viele Karrierebrüche kannte das Leben der öffentlich-rechtlichen Angestellten LucJochimsen?
Der Selbstbetrug der Gesellschaft ist abenteuerlich
Die ästhetischen, die Unterhaltungskategorien in der Politik sind nicht neu, aber sie haben sich schleichend verselbständigt und sind im Begriff, Politik zu ersetzen. Wer das nicht glaubt, zähle die Parteivorsitzenden der SPD in den letzten zwanzig Jahren zusammen, addiere die Ereignisse der letzten Woche und ziehe die Summe mit dem sensationellen Rücktritt von Horst Köhler.
Ehe man die Politiker in Bausch und Bogen verachtet – und die Argumente gegen Wulff sind nichts anderes als ein Dementi gegen praktisch jeden einzelnen Politiker des Westens ab dem Jahrgang 1949 –, sollte man sehen, wie sehr sie den Erwartungen eines Publikums folgen, das von der Politik an eine Seele gemahnt werden will, die es nur im Roman findet. Wir wollen Wahrheit über Legislaturperioden hinaus? Dann rede man mit Peer Steinbrück und über die Frage der Rente mit 67. Es geht um unsere Kinder und Enkel? Dann rede man mit Biedenkopf oder Miegel. Der Selbstbetrug der Gesellschaft ist abenteuerlich.
Politik wird jetzt als Fortsetzungsroman beschrieben
Und die Politiker lernen schnell: Wenn man vom Held erwartet, dass er Drachen tötet, dann bläst sich der Politiker halt für ein paar Tage einen Gummidrachen auf, ehe er wieder die Luft rauslässt. Mehr wollen wir gar nicht. Noch besser: Er distanziert sich gleichzeitig von Politikern und Politik insgesamt, nicht weil er es wirklich glaubte, sondern weil es, seit Buddha aus seinem Palast und seiner sozialen Herkunft auszog, eine Grundfigur der Erlösungsliteratur ist.
Das ist, im Zeitalter der Echtzeitpolitik via Fernsehen und Internet, keine politische Frage, sondern eine ästhetische, ja eine literarische. Politik wird jetzt als Fortsetzungsroman beschrieben, dank der Nachrichtenportale im Netz, die wiederum vom Fernsehen gefüttert werden, das wiederum von Politikern genährt wird. Jörg Marx hat auf seinem Blog (www.marx-blog.de) vorgerechnet, dass es zurzeit im Wochendurchschnitt 33 Politik-Talkshows mit durchschnittlich 112 Talkgästen im deutschen Fernsehen gibt. Es werden Geschichten erzählt, mal winzige Fragmente, mal ganze Epen, man schaue nur an einem beliebigen Wochenende auf „Spiegel online“.
Politische Erzählungen haben nichts mit der „Wahrheit“ zu tun
Die Geschichten werden Drehbücher, indem die Autoren neue Protagonisten auf die Bühne rufen, in einer Geschwindigkeit wie niemals zuvor, und so kommt es, dass aus einem fragmentarischen Dialog in einem Flugzeug mithilfe von Trittin und ein paar aus der Kulisse tretenden Hinterbänklern die Geschichte vom Rücktritt eines Präsidenten wird.
Was dabei vergessen wird: Politische Erzählungen folgen nicht politischen, sondern strengen ästhetischen Gesetzen. Sie haben nichts mit der „Wahrheit“ zu tun, nicht mit dem, was wirklich so gewesen ist, oder gar der Abwägung von Meinungen – im Gegenteil, sie brauchen Zuspitzung, Konflikt und Spannungsbögen, sie folgen Gesetzen ausgefeiltester Berechnung. Wir sind im Begriff, nur noch eine Politik zu honorieren, die dieser Aufmerksamkeitsökonomie folgt.
Die Generation der Babyboomer bricht mit den Gesetzen der Literatur
Und damit sind wir beim letzten Punkt in der Causa Wulff-Gauck. Gauck hatte ein schlimmes Leben verloren und ein gutes gewonnen, und er ist ein Rhetor von bewundernswerter, nur selten selbstgefälliger Güte. Wulff hat ein gutes Leben hinter sich, wie fast alle seiner Generation, aber wenn er ein Held wäre, einer, der aus der Politik, aber nicht aus der Literatur kommt, dann würde er sich und uns darauf vorbereiten, dass gerade diese Generation, die stärkste und meinungsbildendste des Landes, dieses gute Leben niemals mehr wieder bekommen wird.
Wenn die, die ihm jetzt sein ungebrochenes Leben vorwerfen, erkennen würden, dass die Generation der Babyboomer, der Geburtsjahrgänge 1955–1970, einer Fabel folgt, die mit allen Gesetzen der Literatur bricht: Ihr Leben begann mit einem Happy End und kommt jetzt erst an einen harten, wirklich schweren Anfang, den Anfang, vor dem das ganze Land steht.
Der Kampf mit dem Drachen steht noch bevor
Die Demographie ist unerbittlich und lügt nicht. Eine Generation, für die Wulff steht, hat, wie Kurt Biedenkopf zu Recht betont, die Aufgaben im Alter vor sich, die die Kohorten der Vergangenheit in ihrer ersten Lebenshälfte zu meistern hatten. Sie hat noch nichts getan. Sie hat nur funktioniert. Ehe sie sich in Wulffs Spiegelbild selbst bekämpft, sollte sie daran denken, dass der Kampf mit dem Drachen noch bevorsteht. Ein verdammt guter Politiker wäre einer, der keine Figur im Medienunterhaltungsroman unserer Epoche wäre, sondern selbst zum Autor unserer nächsten Jahre wird.
Ein verdammt gutes Wahlvolk wäre eines, das aufhören würde, von Politikern zu verlangen, dass sie sind, was wir nicht sind.