Lehren aus #MeTwo : Hört unseren Geschichten zu!
- -Aktualisiert am
Schüler bei einer Demonstration gegen Rassismus am 25. Jahrestag des Brandanschlags von Solingen Bild: dpa
Wie viel Rassismus es in Deutschland immer noch gibt, ist erschreckend wenig bekannt. Wenn aus #MeTwo mehr als eine Sammlung von Erfahrungen werden soll, ginge es jetzt darum, Kräfte zu bündeln. Ein Gastbeitrag.
Eines Tages las ich ein Buch, und mein ganzes Leben veränderte sich.“ So beginnt „Das neue Leben“ von Orhan Pamuk. Nicht dieser Roman, sondern das Werk „Rasse, Klasse, Nation“ von Étienne Balibar und Immanuel Wallerstein veränderte mein Leben. Es fiel mir in den neunziger Jahren in die Hände, und spätestens, als ich das erste Kapitel zu Ende gelesen hatte, war ich elektrisiert von der Analyse eines „Rassismus ohne Rassen“; von der Beschreibung eines ideologischen Feldes, in dem kulturelle, historische und biologische Muster miteinander verwoben sind. Das Buch, so kam es mir vor, übersetzte meine persönliche Erfahrung mit dem Rassismus in Deutschland in Theorie.
Wow, die schreiben über mein Leben, dachte ich auch, als ich in den vergangenen Tagen all die vielen #MeTwo-Tweets und -Posts las. Und genauso bekannt kamen mir die Reaktionen vieler Deutsch-Deutschen vor. Die einen waren gekränkt und beleidigt, andere fühlten sich angegriffen. Von der Irritation zur Belehrung geht es ganz schnell: Mit #MeTwo werde man keinen einzigen Rechten erreichen, ja letztlich den Rechten nur in die Hände spielen. Als ob aber jemand mit #MeTwo Gauland, Höcke und Konsorten erreichen wollte.
Für alle anderen ist #MeTwo eine Chance
Adressaten von #MeTwo können und sollen gar nicht jene sein, die von „Systemwechsel“ und „Umvolkung“ sprechen, sich an Abschiebungen erfreuen oder wochenlang mediale Hetzkampagnen betreiben. Die sind, wie wir wissen, immun gegen alle Empirie. Für alle anderen ist #MeTwo eine Chance: sich auf die Erinnerungen von Migranten einzulassen, sich zu fragen, was die mit einem selbst und diesem Land zu tun haben könnten. Es sieht aber so aus, als sei es für viele nur schwer zu ertragen, dass diese migrantischen Perspektiven sich so schnell multiplizieren. Kann es sein, dass das damit zu tun hat, dass #MeTwo am Ende doch sehr deutsch ist?
Angesichts der Rechtsverschiebung in Politik und Gesellschaft, die wir quasi im Livestream verfolgen, kommen mir viele Reaktionen aus der Mehrheitsgesellschaft auf #MeTwo geradezu zynisch vor. Wenn deutsche Medienmacher und Politiker definieren, was Rassismus ist; wenn sie meinen, sie könnten schon selber die Erfahrungen der Migranten beurteilen: Dann ist das ungefähr so, wie wenn die Frauen es den Männern überließen, darüber zu befinden, was Sexismus ist und ob und wie Frauen diskriminiert werden.
Dabei geht es doch nur um persönliche Geschichten und Erlebnisse. Es geht nicht um den Anspruch auf Repräsentativität, schon gar nicht um politische Forderungen. Man wagt sich kaum auszumalen, welche Widerstände es gäbe, wenn aus #MeTwo tatsächlich eine politische Debatte würde. Dazu wird es vermutlich nicht kommen.
Das Wissen und die Erfahrung darüber, wie viel Rassismus es immer noch gibt – im Alltag und institutionell –, ist erschreckend schwach ausgeprägt in Deutschland. Das zeigen die Reaktionen auf #MeTwo. Es geht aber nicht nur darum, eine Wissenslücke zu schließen. Die kleinen #MeTwo-Schnipsel teilen lediglich Erfahrungswissen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Sollte daraus doch mehr werden, ginge es darum, Kräfte zu bündeln, um Rassismus und Hass zu bekämpfen, auch innerhalb der Migrantencommunitys. Denn rassistische Verhaltensmuster und Denkfiguren existieren auch dort.
Es gibt keine Alternative zu Migration. Menschen sind schon immer in Bewegung. Sie werden es auch in Zukunft sein. Der laute Ruf nach der Regulierung der Einwanderung ist immer auch ein Eingeständnis der Autonomie der Migration. Es gibt keine Rückspultaste, die Deutschland in einen Zustand ohne Einwanderung versetzen könnte. Migranten sind und bleiben hier. Das macht das Leben in Deutschland spannender, vielfältiger und, ja, auch komplizierter.
Hört zu! Auch, um jenen ein Bein zu stellen, die ein „Wir“ und „Die“ konstruieren, hört endlich den Geschichten der Ceylans, Igors und Sohras besser zu. Es sind nicht nur deren Geschichten. Es sind unsere Geschichten. Es sind Geschichten dieser Gesellschaft. Dann wird deutlich, dass eine Einwanderungsgesellschaft zu sein so ziemlich das Beste ist, was diesem Land passieren kann.
Der Autor ist Schriftsteller und Inhaber einer Agentur für Kampagnen. Zuletzt ist „Ruhm und Ruin“ im Verbrecher-Verlag erschienen.