Wie wir unser Leben noch gestalten können
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Einigkeit herrscht darüber, dass eine gute Begleitung von Covid-19-Patienten von der Intensivmedizin geleistet wird, Uneinigkeit darüber, wer ihrer teilhaftig werden soll. Bild: dpa
Vereinsamung, Gewalt, Schulden: Die Pandemie fordert uns heraus, schafft aber keine Zwangslagen. Es gibt Möglichkeiten, die Grenzsituation zu bewältigen. Ein Gastbeitrag.
Dass wir derzeit eine Grenzsituation des Lebens erfahren – wie die meisten unter uns sie noch nie erlebt haben –, würde wohl kaum jemand bestreiten: eine Grenzsituation, in der unsere bisher eingeübten Denk- und Lebensmuster ihre Selbstverständlichkeit verlieren und deren Gestaltung auf grundlegende Weise über unsere politische, ökonomische und persönliche Zukunft mitentscheidet. Strittiger ist, was unsere Gegenwart zu einer Grenzsituation macht: die sich ausbreitende Corona-Welle? Die neuen Testverfahren der Virologie, die die Epidemie allererst sichtbar machen? Oder die politischen Maßnahmen der Pandemie-Bekämpfung, die grundlegende Freiheitsrechte außer Kraft setzen? Es ist das Ineinandergreifen der epidemiologischen Prozesse, des Systems der Intensivmedizin und der politischen Pandemiebekämpfung unter dem Leitprinzip des Lebenserhalts, das unsere Situation zur Grenzsituation steigert.
Dabei steht die politische Kommunikation im Zeichen der Alternativlosigkeit. Unter der biopolitischen Maßgabe der unbedingten Lebenserhaltung rückt angesichts der pandemischen Bedrohung das Verhindern eines Kollapses der Intensivmedizin zum obersten politischen Ziel auf. Die „Durchseuchung“ muss immer aufs Neue so gestaltet werden, dass das System der Intensivmedizin standhält. Eine Alternative scheint nicht offenzustehen – droht bei Versäumnis doch der Zwang zur „Triage“, in der wir Menschen zum Sterbenlassen aussondern, obwohl wir sie prinzipiell hätten retten können. Im Verhältnis zur Bevölkerung muss es primär darum gehen, Akzeptanz für die beschlossenen Maßnahmen herzustellen. Gleichzeitig stehen aber der Schuld, die wir auf uns ziehen würden, wenn wir in der „Triage“ den Wert des Lebens erkrankter Menschen bemessen wollten, Formen der Schuld gegenüber, in die wir uns zurzeit tagtäglich verstricken, indem wir Menschen durch unsere vermeintlich alternativlosen Maßnahmen in existentielle Notsituationen bringen.
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