Zerstörung Nimruds : Es sind auch unsere Wurzeln
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Gerettet: Assyrische Skulptur aus Nimrud im irakischen Nationalmuseum in Bagdad Bild: AP
Seit 25 Jahren werden kulturelle Zeugnisse im Boden des Irak zerstört. Mit der Verwüstung von Nimrud durch den IS ist eine neue Dimension erreicht. Was zu ihrem Schutz – auch in Deutschland – zu tun ist. Ein Gastbeitrag.
Auf das erste weltweite Entsetzen über die Zerstörungen im Museum von Mossul sowie an der assyrischen Königsresidenz Niniveh folgt nun das zweite, noch größere über die gestrigen Nachrichten von der Einebnung der antiken Stadt Nimrud. Nach dem, was aus dem Irak zu hören ist, übertreffen die dortigen Zerstörungen sogar noch die ersten Meldungen; alles, was über Jahrzehnte ausgegraben und teilweise rekonstruiert wurde, ist verloren, soweit es dort geblieben war. Was wir nun nur noch haben, sind die Objekte, die von dort in Museen gelangt sind, zum Beispiel ins Irakische Nationalmuseum in Bagdad.
Deshalb gibt es aktuell auch eine gute, eine hoffnungsvolle Nachricht, doch das Medieninteresse an ihr war vergleichsweise gering: Nach zwölfjähriger zwangsweiser Schließung öffnet das Irakische Nationalmuseum wieder für die Öffentlichkeit. Erstmals seit der weitgehenden mutwilligen Verwüstung des Museums und der teilweisen Plünderung seiner Bestände in den Kriegswirren des Jahres 2003 - etwa 15.000 archäologische Objekte, darunter zahlreiche Spitzenstücke, wurden seinerzeit gestohlen - ist die weltweit wohl bedeutendste Sammlung materieller Zeugnisse des antiken Zweistromlandes wieder ein Ort der Forschung, des Staunens und der Begegnung mit der unermesslich reichen Kulturgeschichte des Irak.
Lange Leidensgeschichte
Unter schwierigsten Lebens- und Arbeitsbedingungen hatten Archäologen, Keilschriftforscher, Museologen und Restauratoren in Bagdad Jahr um Jahr auf diesen Tag hingearbeitet, Ausstellungsräume neu konzipiert, beschädigte Objekte restauriert, Vitrinen gestaltet, Beschriftungen angebracht - selbst unter besten Voraussetzungen eine wissenschaftliche und logistische Herkulestat. Dass die Eröffnung nun unmittelbar vor der Zerstörung Nimruds erfolgte, dem schwersten Schlag für die irakische Archäologie und das kulturelle Gedächtnis der Region, lässt Freude darüber kaum mehr zu.
Dabei hat diese Wiedereröffnung eine noch viel weiter reichende Bedeutung, wie Qais Hussein Rashid, der ehemalige Generaldirektor des Nationalmuseums und jetzige Vizeminister für Tourismus und Altertümer des Irak, anmerkt: „Zum ersten Mal gibt es eine ganze Generation von Irakern, die nicht wissen, was das Nationalmuseum ist. Nun können Kinder und Familien wieder das Museum besuchen, um mit den Objekten in Berührung zu kommen.“
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Die Wiedereröffnung des Irakischen Nationalmuseums hilft uns, die Ereignisse in Mossul, Niniveh und Nimrud besser einzuordnen. Denn sie erinnert uns daran, dass die archäologischen Kulturgüter des Irak ebenso wie die Institutionen, die diese Kulturgüter schützen und erforschen, nicht erst seit diesem Jahr zerstört und geplündert werden. Die neuere Leidensgeschichte dessen, was an materiellen Kulturzeugnissen von Sumerern, Akkadern, Babyloniern und Assyrern im Boden des Irak und der Nachbarstaaten überdauert hat, beginnt sehr viel früher: Anfang der neunziger Jahre, als die durch den irakischen Einmarsch in Kuweit ausgelösten Wirtschaftssanktionen der Vereinten Nationen im Alltag der irakischen Bevölkerung Wirkung zeigten.
Mit Baggern gegen Lehmziegel
Diese Feststellung schmälert keineswegs den Verlust, den Weltgemeinschaft und Wissenschaft jetzt durch den propagandistisch inszenierten Bildersturm in Mossul, Niniveh und Nimrud erlitten haben. Doch wer in diesen Tagen entsetzt und fassungslos die Auslöschung hochwertiger Bildwerke aus vorchristlicher Zeit beklagt, sollte auch erfahren, dass solche Verluste dem Land zwischen Euphrat und Tigris in den letzten beiden Jahrzehnten abertausendfach beigebracht worden sind, schleichend und weitgehend unbemerkt von der Weltöffentlichkeit.
Dort, wo im vierten Jahrtausend vor Christus Großstädte mit monumentalen Bauwerken und komplexen Sozialgefügen entstanden, wo ein überaus anpassungsfähiges, über Jahrtausende hinweg verwendetes Schriftsystem erfunden wurde, wo meisterhafte Dichtungen wie das Gilgamesch-Epos und die ältesten Erzählungen von der Sintflut aufgezeichnet wurden, wo man Astronomie, Mathematik, Rechtsgelehrsamkeit und Theologie an berühmten Akademien studierte, dort haben Bagger und anderes schweres Gerät tiefe Löcher in den Boden gegraben, haben das jahrtausendealte Mauerwerk aus Lehmziegeln durchbohrt. Sie taten dies, um etwa an Keilschrifttafeln, Rollsiegel, Schmuck oder Skulpturen zu gelangen, die sich im illegalen Handel mit Kulturgut zu Geld machen lassen. Im Altertum blühende Metropolen wie Adab, Irisagrig, Isin oder Umma sind auf diese Weise buchstäblich von der Landkarte bedeutender archäologischer Stätten getilgt worden, ihre zukünftige Erforschung durch die Zerstörung der antiken Bebauung weitgehend unmöglich gemacht.
Noch viel schwerer wiegt aber wohl die Tatsache, dass auch das irakische Wissenschaftssystem unter dem seit nunmehr 25 Jahren anhaltenden politischen Ausnahmezustand großen Schaden genommen hat. Denn es sind ja die universitären und außeruniversitären Forschungseinrichtungen des Landes, die das Wissen um den Erhalt des eigenen Kulturerbes bewahren, weiterentwickeln und vermitteln müssten - eine ganze Generation ohne Zugang zu der gemeinsamen kulturellen Vergangenheit!
Vorislamische Kultur als gemeinsamer Bezugspunkt
Was hat das mit uns zu tun? Warum sollte uns das Schicksal des irakischen Kulturerbes interessieren? Die Antwort darauf ist einfach: Im Boden und in den Museen des Irak liegen die Zeugnisse dessen, worin nahezu alle kulturhistorischen Narrative unserer Gesellschaft wurzeln. Das antike Mesopotamien gilt uns gemeinhin als Wiege der Zivilisation, als frühe Hochkultur, selbst wenn dies ein eindimensionaler, stark vereinfachender Blick auf die kulturellen Dynamiken ist, aus denen unsere Gegenwart resultiert.
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Viel wichtiger aber als die Affirmation unserer eigenen kulturhistorischen Narrative ist, dass das vorislamische Kulturerbe des Irak einen geschichtlichen und kulturellen Referenzpunkt darstellt, auf den sich alle dortigen gesellschaftlichen Gruppierungen beziehen können, wenn es darum geht, eine gemeinsame Verständigungsgrundlage für die anstehenden Prozesse der gesellschaftlichen Aussöhnung und der kulturellen Identitätsbildung auszumachen. Museen wie archäologische Stätten sind Orte kollektiven Erinnerns und können als solche identitätsstiftend wirken, auch über soziale, ethnische oder konfessionelle Grenzkonstruktionen hinweg. Insofern muss es ein übergeordnetes Ziel zukünftiger kulturpolitischer Bemühungen sein, durch Maßnahmen zum Schutz vorislamischer Kulturgüter im Irak dieses Potential eines einigenden kulturellen Selbstverständnisses und der damit einhergehenden demokratischen Transformation auszubauen.
Eine hoheitliche Aufgabe souveräner Staaten
Die akute Bedrohung des irakischen Kulturerbes hat aber vor allem deswegen mit uns zu tun, weil wir gerade in Deutschland über die Kompetenzen und Mittel verfügen, diese Bedrohung langfristig zu reduzieren und materielle Hinterlassenschaften der altorientalischen Gesellschaften auch für zukünftige Generationen zu erhalten. Da diese Kompetenzen nicht zuletzt an archäologischen Kulturgütern ausgebildet wurde, die in Forschungsmuseen wie dem Vorderasiatischen Museum in Berlin aufbewahrt werden, ist es nicht nur moralische Pflicht, sondern geradezu eine Selbstverständlichkeit, dass wir das so erworbene Wissen nun auch zum Schutz des irakischen Kulturerbes anwenden.
Ziel entsprechender Programme muss es sein, im Irak und gemeinsam mit irakischen Institutionen die politischen, gesellschaftlichen, infrastrukturellen und wissenschaftlichen Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass das archäologische Kulturerbe von diesen Institutionen langfristig erhalten, wissenschaftlich erschlossen und museal präsentiert werden kann. Denn der Schutz kultureller Güter ist eine hoheitliche Aufgabe souveräner Staaten, die von diesen nur selbstbestimmt und im Rahmen ihrer politischen Prioritätensetzung und wirtschaftlichen Möglichkeiten erfolgen kann. Da bilaterale Expertengespräche die Grundlage für die Umsetzung entsprechender Maßnahmen sind, hat das Vorderasiatische Museum gemeinsam mit nationalen und internationalen Kooperationspartnern ein Konzept für einen solchen irakisch-deutschen Fachdialog entwickelt, der noch in diesem Jahr seine Arbeit aufnehmen soll.
Gegen den illegalen Kulturguthandel
Aber auch hier in Deutschland können wir aktiv zum Schutz irakischen Kulturerbes beitragen. Je unattraktiver Deutschland als Marktstaat für illegal ausgeführte und gehandelte Kulturgüter wird, desto geringer wird der Anreiz sein, Museen und archäologische Stätten zu plündern. Ein entscheidender Schritt in diese Richtung wird die von der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien, Staatsministerin Monika Grütters, angekündigte Novellierung des deutschen Kulturgutschutzgesetzes mit strengeren Einfuhrkontrollen, effizienten Rückgabemechanismen und strikten Sorgfaltspflichten für alle am Handel Beteiligten sein. Die Mechanismen dieses illegalen Kulturguthandels aufzudecken und Maßnahmen zu dessen Bekämpfung zu entwickeln, ist Gegenstand eines transdisziplinären Forschungsprojekts, das seit wenigen Tagen vom Bundesministerium für Bildung und Forschung mit insgesamt 1,2 Millionen Euro gefördert wird und am Vorderasiatischen Museum angesiedelt ist. Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt dabei auf antiken Kulturgütern aus dem östlichen Mittelmeerraum, insbesondere aus Syrien und dem Irak.
Deutschlands Beitrag zum Kulturgutschutz im Irak sowie in anderen Ländern des Nahen Ostens wäre aber unmöglich ohne Fächer wie Vorderasiatische Archäologie, Altorientalische Philologie, Ägyptologie, Klassische Philologie oder Klassische Archäologie. Umso wichtiger ist es, dass der Erhalt dieser Kompetenzen auch weiterhin als gesamtgesellschaftlich relevante Aufgabe verstanden und betrieben wird. Denn im Schutz bedrohter Kulturgüter erbringen diese Disziplinen nicht nur eine bedeutende gesellschaftliche Transferleistung, sie schaffen auch die Voraussetzungen dafür, dass alle zukünftigen Generationen irakischer Kinder mit dem einzigartigen kulturellen Erbe ihres Landes aufwachsen können.