Corona-Demonstrationen : Geht es zu Ende mit der Wirklichkeit?
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Demonstration „Das Ende der Pandemie“ am 1. August 2020 in Berlin Bild: dpa
Berlin hat die große Corona-Demonstration verboten. Virusleugner werden sich bestätigt fühlen. Worum geht es ihnen wirklich? Und warum sind sie gerade in Deutschland so zahlreich?
Fünf Monate ist es her, dass das große Augenreiben begann über die bunt zusammengewürfelten Infektionsdemos, auf denen sich vor der Berliner Volksbühne Kapitalismuskritiker mit Verschwörungstheoretikern und rechtsextremen Youtubern zusammenfanden, um unter demonstrativem Verzicht auf Gesichtsmasken gegen die Corona-Maßnahmen zu protestieren. Drei Wochen später versammelten sich auf dem Stuttgarter Schlossplatz die ersten fünfzig Anhänger des Bündnisses Querdenken-711, die wegen rasanten Zuwachses schon bald auf den Cannstatter Wasen ausweichen mussten. Seit die große Berliner Demonstration Anfang August das „Ende der Pandemie“ verkündete, war klar, dass es sich bei der Querfront von meditierenden Pazifisten bis fahnenschwenkenden Reichsbürgern, deren nächster Aufmarsch an diesem Samstag nun vom Berliner Senat verboten wurde, um kein vorübergehendes Phänomen handelt, das sich auflösen würde, wenn der Gegenstand des Protestes sich auflöst, nämlich die Einschränkungen der Grundrechte zur Eindämmung der Corona-Pandemie.
Im Gegenteil. Je weiter dieser Gegenstand sich zuletzt aufgelöst hat, - Restaurants und Geschäfte sind seit Mai gut besucht, Kinder gehen wieder in die Schule, und in Berlin dürfen sich seit Juli bis zu 300 Menschen privat treffen, –, desto größer wurde der Protest, desto militanter raunte die unter Demonstrierenden verteilte Zeitung „Demokratischer Widerstand“ von „einer terroristischen Diktatur der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“ und fordert, Überläufern sei „Anmesie“ (sic) zu gewähren. Desto größer also wurden die kontinentalen Gräben zwischen den in Stellung gebrachten Beschreibungen der Wirklichkeit. Weiter gingen die Schätzungen einer Demonstrationsgröße wohl nie auseinander als zwischen den am 1. August sich als 1,3 Millionen empfindenden Organisatoren und der polizeilichen Schätzung von 20 000 Teilnehmern.
Eine um sich greifende Lust am Ausrufen alternativer Realitäten
Zu den Kräften, die die Pandemie entfesselt hat, gehört offenbar eine um sich greifende Lust am Ausrufen alternativer Realitäten. Ganz besonders aber am Bezweifeln jener Realität, über die sich Regierung, Robert-Koch-Institut und alle seriös genannten Medien so verdächtig einig sind. „Das Corona-Regime ist beendet, eine ,zweite Welle‘ wird nicht stattfinden, weil sie nicht stattfinden kann“, verkündete der Newsletter des „Demokratischen Widerstands“ nach der letzten Berliner Demonstration, kündigte Beratungen über Verfassungsänderungen an und feierte schon mal im Voraus die „6. Republik“, die „Freie Bundesrepublik Deutschland“.
Man könnte die kruden Souveränitätsgesten der „größten Wochenzeitung unserer Republik“ als Skurrilität abtun, fänden sich nicht auch im Bekanntenkreis plötzlich studierte, in ihren Berufen respektierte und gut vernetzte Familienmenschen, die einerseits verständliche Argumente gegen die Verhältnismäßigkeit der Corona-Maßnahmen vorbringen, andererseits aber fragen, wie die Gleichschaltung der Medien eigentlich funktioniere. Wenn selbst sie es vorziehen, der Politik und den sogenannten Massenmedien nicht mehr zu trauen, wie viele tun es dann gerade noch? Wie viele zählen das Leid und die Ungerechtigkeiten in ihrer näheren Umgebung so lange zusammen, bis sie sie nicht mehr zu den Regierungsmaßnahmen ins Verhältnis setzen können, den Medien nicht mehr trauen und das, was eine große Mehrheit noch immer als selbstkritische Vermittlungen selbstkritischer Politik auf Grundlage selbstkritischer wissenschaftlicher Empfehlungen beschreiben würde, zu Belegen einer Verschwörung umdeuten? Immerhin erklärten im Juni 17 Prozent der Befragten gegenüber Infratest dimap, sie hielten die Corona-Krise für einen Vorwand der Politik zur dauerhaften Einschränkung der Freiheitsrechte.