Bücher-Krise in Brasilien : Rettet die Nische!
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Bücher-Bar in Rio de Janeiro Bild: Picture-Alliance
Viele brasilianische Verlage und Buchhandlungen sehen sich durch rückläufige Leserzahlen in ihrer Existenz bedroht. Ist damit der freie Austausch von Ideen in Gefahr, den das Land so sehr benötigt?
Dies seien dunkle Zeiten für das Buch in Brasilien, schrieb der Verleger Luiz Schwarcz kürzlich in einem Post, der unter Buchliebhabern weltweit Aufmerksamkeit erregt hat: Seit dem Beginn der Krise 2014 sei der Markt eingebrochen, hätten Verlage ihre Programme zusammengestrichen und viele Menschen im Buchgeschäft ihre Arbeit verloren. Der langjährige Leiter des Großverlags Companhia das Letras nahm eine Hiobsbotschaft zum Anlass, die die Branche im Kern getroffen hat: Die beiden größten Buchhandelsketten Brasiliens, Saraiva und Livraria Cultura, haben nach Verlusten im zweistelligen Millionenbereich Insolvenzschutz angemeldet.

Europa-Korrespondent des Feuilletons in Berlin.
Saraiva ist in Brasilien ein Symbol für die Qualitätsbuchhandlung selbst. Zwanzig seiner hundert Filialen musste das Unternehmen schließen, und ob die jetzt angestrebte Radikalkur hilft, vermag niemand zu sagen. Bedroht sind auch zahlreiche Verlage, denen Saraiva Geld schuldet. Was wir in Deutschland gern als „Grundversorgung“ bezeichnen – dass man irgendwo an seinem Wohnort einen Laden findet, in dem man beraten wird, in dem man Bücher anblättern und in ihnen lesen kann –, ist in Brasilien ein ferner Traum, auch aus soziologischen Gründen.
Denn was Schwarcz nicht erwähnt, weil es sich in seinem Land von selbst versteht, ist die Konzentration von Buchhandlungen in Einkaufszentren. Die Qualitätsbuchhandlung auf offener Straße existiert nicht, weil „die Straße“ kein sicherer Raum mehr ist. Deswegen liegen alle acht Saraiva-Niederlassungen im Stadtgebiet der Zwölf-Millionen-Metropole São Paulo in einer Shopping-Mall. In Salvador, Brasiliens drittgrößter Stadt, die vier Saraiva-Läden hat, sieht es genauso aus. Schaut man auf den übrigen Bundesstaat Bahia, in dem Salvador liegt, wird es richtig gruselig: Ein Gebiet von der Größe Frankreichs mit mehr als vierzehn Millionen Einwohnern kann außerhalb der Hauptstadt keine einzige Saraiva-Filiale vorweisen. Nicht in Barreiras, wo mehr als 150000 Menschen leben, und auch nicht im gleich großen Porto Seguro weiter im Süden.
Ein Leben ohne Minderheitenbücher
Die liebgewordene Vorstellung eines lateinamerikanischen Kontinents der volkstümlichen Erzähler, Fabulierer und Mythenstifter, des direkteren Drahts zwischen dem Menschen und der Kunst, die von seinen Kämpfen handelt, bedarf also dringend der Korrektur. Der Markt für erzählende Literatur ist innerhalb der letzten fünf Jahre um mehr als vierzig Prozent geschrumpft. Der Austausch über Bücher hat sich, wie der in Berlin lebende Schriftsteller Rafael Cardoso kürzlich in einem Zeitschriftenbeitrag schrieb, in ein Selbstgespräch der Eliten verwandelt.
Shopping-Malls, die bewachten Konsumenklaven des weißen Brasiliens, spiegeln in dieser Hinsicht ein künstliches Leben vor; sie sind Trutzburgen inmitten unsicherer Metropolen, die ihrerseits mit Einbruch der Dunkelheit gegen 18 Uhr veröden. Nur im „Shopping“ herrschen noch bis 21 Uhr Sicherheit und Aktivität, wird im klimatisierten Schutzraum flaniert und zu Abend gegessen.
An dieses privilegierte Publikum, das offenbar prima ohne Lektüre leben kann, richtet Luiz Schwarcz vor Weihnachten seinen „Liebesbrief an Bücher“. Tut etwas für die kleineren Verleger, schreibt er, „die heute etwas verkaufen müssen, um morgen noch zu existieren“. Denkt an die Verlage, die Vielfalt verteidigen, nicht nur die Vielfalt „von Rasse, Gender, Überzeugungen und Idealen, sondern auch von Büchern mit unterschiedlichem kommerziellen Ehrgeiz, vom bescheidenen bis zum kühnen“. Denn: „Bücher aller Form und Größe müssen überleben. Überlegen Sie einmal, wie das Leben ohne Minderheitenbücher wäre, und ich meine damit nicht nur die Auflage, sondern die Sache, um die sie kämpfen. Nischenbücher sind so wichtig wie Bestseller.“
Gehässige Kommentare
Im Oktober hat der Mediengigant Penguin Random House, der bisher fünfundvierzig Prozent an der Companhia das Letras hielt, den Verlag ganz übernommen; Luiz Schwarcz, Jahrgang 1956, wird als Vorstandsvorsitzender weitermachen. Erstmals in zweiunddreißig Berufsjahren habe er kürzlich sechs Menschen entlassen müssen, schrieb der Verleger, und er könne nicht dafür garantieren, dass es dabei bleibe.
Hier und da gab es gehässige Kommentare, wie Schwarcz darauf komme, von einer Krise zu sprechen, die andere viel stärker spüren als er. Doch die Mehrheit sorgte in den sozialen Medien für massenhaften Zuspruch, weil sie den Kern des Arguments erkannte: dass es um alle geht – Autoren und ihre Verleger, Buchhändler und ihre Kunden, jeden einzelnen Leser. Um Debatte und den freien Austausch von Ideen, um Sauerstoff für die Demokratie selbst. Der Name des rechten Präsidenten Jair Bolsonaro brauchte in diesem Zusammenhang nicht zu fallen. Jedem im kulturellen Milieu Brasiliens ist klar, dass kritisches Denken in den nächsten Jahren einen schweren Stand haben wird und Büchern, die dafür eintreten, rauhere Zeiten bevorstehen.