Der Orient und das Mittelalter : Was den Blick verstellt
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Halb Spätantike, halb Aufbruch: Wenn man die Geschichte Europas in einen weitgefassten Kulturraum einbetten will, der auch den Orient einschließt, sollte man sich vom Begriff des Mittelalters verabschieden. Ein Gastbeitrag.
Sieben Gründe sind zu nennen, warum die Begriffe „Mittelalter“ im Allgemeinen und „islamisches Mittelalter“ im Besonderen zu vermeiden sind: Der Ausdruck „islamisches Mittelalter“ ist erstens ungenau, zweitens verführt er zu Fehlschlüssen, drittens lässt er sich von seinen negativen Konnotationen nicht ablösen und wird deshalb oft diffamierend verwendet, exotisiert viertens die islamische Welt und nimmt sie fünftens gleichzeitig auf imperialistische Weise in Beschlag, hat sechstens keine sachliche Grundlage, weil sich die Transformationsprozesse in der Spätantike in Europa und in Vorderasien auf ganz unterschiedliche und häufig gegensätzliche Weise vollzogen, und verstellt siebtens den Blick auf die wirklichen Epochengrenzen.
Einige Historiker haben nicht nur die lange Tradition der Geschichtswissenschaft als Nationalgeschichte hinter sich gelassen, sondern auch gezeigt, dass man sich der Geschichte Europas nur dann wirklich annähern kann, wenn man sie ihrerseits in einen größeren geographischen und kulturellen Raum einbettet, der sich vom westlichen Mittelmeer bis zum Hindukusch erstreckt. Dies ist der Raum der romano-graeco-iranischen Antike, dessen einzelne Regionen nie unbeeinflusst voneinander waren, auch wenn die Interaktion zwischen ihnen im Lauf der Geschichte von sehr unterschiedlicher Intensität war. Die Frage lautet nun: Wie lässt sich die Geschichte dieser Großregion sinnvoll in Perioden einteilen, die für das gesamte Gebiet Geltung haben?
Ein Teil der Spätantike
Hier zeigt sich, dass der Begriff „Mittelalter“ nicht nur nicht weiterhilft, sondern es geradezu verbietet, die Region in der Zeit zwischen dem Ende des Weströmischen Reichs 476 und dem Ersten Kreuzzug 1096 noch als Ganzes in den Blick zu nehmen. Der westliche Teil (ohne al-Andalus) und der östliche Teil entwickelten sich nämlich seit dem fünften Jahrhundert derart rasant und tiefgreifend auseinander, dass es auf den ersten Blick nicht mehr sinnvoll erscheint, sie in einer gemeinsamen Epoche zu verorten. In fast jeder Hinsicht ähnelt die Welt des frühen Islams bis ins elfte Jahrhundert weit stärker derjenigen des tangzeitlichen China als der des „frühmittelalterlichen“ Europa.
Eine Gesamtschau der Region wird erst dann möglich, wenn man sich des Mittelalterbegriffs entledigt, der sich weder für die Geschichte Europas noch für die des Mittleren Ostens und Zentralasiens als irgendwie hilfreich erweist. Hat man sich von diesem Ballast befreit, wird eine viel sinnvollere Periodisierung sichtbar. Anknüpfend an die First-Millennium-These Garth Fowdens, lässt sich der Zeitraum nach dem Untergang des Weströmischen Reiches und der arabisch-islamischen Eroberung des Sassanidenreiches sowie weiter Teile des Oströmischen Reiches als Teil der Spätantike verstehen. Weder das eine noch das andere begründet eine neue Epoche, sondern beschleunigt vielmehr Transformationsprozesse, die zu etwas Neuem führen sollten, das einstweilen aber noch fest auf den Fundamenten der romano-graeco-iranischen Antike fußt.
Nur so, als Transformationsprozess und als formative Periode, lässt sich die Zeit zwischen 500 und 1050 in West- und Mitteleuropa einerseits und in West- und Zentralasien andererseits ein- und derselben Epoche zuordnen. Dabei ist es zwar interessant, aber nicht epochenkonstitutiv, dass die Entwicklung in den Regionen höchst unterschiedlich und oft sogar in gegensätzliche Richtungen verläuft. Im Laufe des elften Jahrhunderts nähern sich die Lebensverhältnisse in den verschiedenen Räumen einander wieder an. Vor allem ist mittlerweile überall etwas Neues entstanden, worin das antike Erbe nachhaltig eingeschrieben ist, das aber nicht mehr antik ist. Der Beginn einer neuen Epoche für die gesamte Welt zwischen Gibraltar und Hindukusch ist offensichtlich.