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Exodus aus Belarus : Unterdrückung und neuer Aufbruch

  • -Aktualisiert am

Passanten vor dem Tor zum Campus der Warschauer Universität Bild: Frank Röth

Die Nichtverlängerung ihrer Arbeitsverträge sehen Minsker Forscher als Ausdruck politischer Verfolgung. Die entlassenen Historiker gehen deswegen ins Exil nach Polen und Litauen.

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          Kacjaryna Kryvičanina will ihren Namen erst preisgeben, nachdem sie im Januar die Republik Belarus mit dem Flugzeug verlassen hat. Nachdem die Leitung des Minsker Instituts für Geschichtswissenschaften über Monate Druck auf die Historikerin ausgeübt hatte, verlor sie zum Jahreswechsel zusammen mit elf weiteren Kolleginnen ihre Arbeit an der Nationalen Akademie der Wissenschaften. Jetzt ist sie im Gästehaus „Hera“ der Universität Warschau am Trakt zur Königlichen Residenz in Wilanów untergebracht und blickt auf fünf Monate Protest in der Republik Belarus zurück. Für Kryvičanina sind die historischen Parallelen offenkundig. Dazu gehört für sie „der totalitäre sowjetische Staat, in dem das Leben des Einzelnen mit seinem Standpunkt, seiner Meinung völlig wertlos war. Verräter, Spione, gekauft und so weiter – solche Anschuldigungen bekommen die Protestierenden heute zu hören.“ Dass anonyme Anzeigen zurückgekehrt sind, die Instrumentalisierung der Gerichte sowie eine Polizei, die sich selbst schützt statt die Bürger, erinnert sie an die Zustände der dreißiger Jahre in der Sowjetunion.

          Auch für die anderen Betroffenen ist klar, dass die Nichtverlängerung von sieben Arbeitsverträgen Ausdruck der politischen Verfolgung von Wissenschaftlern in Belarus ist. Vadzim Anipiarkau, der ebenfalls im Januar in Warschau eintraf, sieht die ganze Gruppe als Opfer einer gezielten Säuberungswelle, der zunächst die Vorsitzende der Gewerkschaft und ihr Stellvertreter zum Opfer fielen. Danach folgten diejenigen, die wegen der Teilnahme an illegalen Demonstrationen nach dem Paragraphen 23.34 verurteilt worden waren. Doch ihre Geschichte handelt nicht nur von der Repression des Staatsapparats, sondern auch von der Willensstärke der Historiker und davon, wie in Belarus die Macht jeden Tag wieder neu durch die Entscheidungen einzelner hergestellt wird. So hatten fünf der jetzt ins Exil gezwungenen Historiker aus Solidarität mit ihren Kollegen gekündigt.

          Ein Volksfest des Protests

          Nur fünf Tage nach der gefälschten Wahl standen im August 2020 die ersten Historiker vor dem Präsidium der Akademie der Wissenschaften mit Transparenten gegen Gewalt, nachdem ihr Kollege Andrej Radaman ohne erkenntlichen Anlass verhaftet worden war. Zunächst stand die Leitung der Akademie unter Schock. Immerhin handelte es sich beim Institut für Geschichtswissenschaften um eine Einrichtung, an der nicht nur geforscht wird, sondern auch Bausteine der offiziellen Staatsideologie vorgefertigt werden. Dass dort viele Mitarbeiter abweichende Meinungen von dieser Ideologie haben, war bekannt, aber nie zuvor war ihr Protest Teil eines Wochen währenden Volksfestes, das sich gegen den Kern der Macht richtete.

          Weil die Institutsleitung diese neue Form einer selbstbewussten Bürgeröffentlichkeit als Bedrohung der eigenen Position und des Staats zugleich deutete, bedrängte sie die Gewerkschafterin Kacjaryna Kryvičanina in informellen Gesprächen: „Warum macht ihr bei diesen Briefen, Appellen und Aktionen mit? Wenn ihr eure Position zur Schau stellen wollt, geht in den Wald! Warum müsst ihr das vor den Türen der Akademie tun?“, lauteten die Fragen. Der in Minsk verbliebene Nikolai Wolkow berichtet per E-Mail, nach den Wochen des Abwartens im September seien die Daumenschrauben angezogen worden. Nach den zur Einschüchterung abgehaltenen Versammlungen und Einzelgesprächen musste jeder Teilnehmer der Proteste für sich eine existentielle Entscheidung treffen. In diesem Sinne sind die jetzt Entlassenen nicht wehrlose Opfer, sondern Handelnde, die bereit waren, einen hohen Preis für ihre Haltung zu zahlen: ihre Existenz als Forscher.

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