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Exodus aus Belarus : Unterdrückung und neuer Aufbruch

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Ein Kollege, der anonym bleiben will, beschreibt den vergangenen Herbst der Repression als die Wiederherstellung der Minsker Machtvertikale, auch an der Akademie: „Der Geheimdienst übergibt dem Präsidium der Akademie Materialien über unzuverlässige Mitarbeiter. Im Präsidium wird über die Entlassungen entschieden. Die Institutsverwaltung fertigt diese dann nur noch aus.“ Diese Vertikale ist zwar auf Alexander Lukaschenka ausgerichtet, doch dank ihrer Existenz haben auch jenseits des Sicherheitsapparats Tausende Staatsbedienstete ihr Auskommen, wenn sie tagtäglich ihre Loyalität unter Beweis stellen. Der Vorsitzende des Akademie-Präsidiums Wladimir Gusakow macht kein Hehl aus diesem Wissenschaftsverständnis. In einer Neujahrsansprache verkündete Gusakow, es sei wichtig, nicht das Vertrauen der Staatsorgane zu verlieren: „Die Rolle der Wissenschaft besteht darin, an der Seite der Macht zu stehen.“

Berufsverbote im 21. Jahrhundert

Kacjaryna Kryvičanina verlor am 31. Dezember nicht nur ihren Arbeitsplatz in Belarus, sondern auch ihre Bleibe, da sie in einer Dienstwohnung der Akademie gelebt hatte. Ihr Kollege Ales Zlutka deutet das Auslaufen seines Vertrags als Berufsverbot im 21. Jahrhundert: „Ich habe Angst, dass dies für uns alle die Arbeitslosigkeit bedeuten könnte und dass die Mittel für die Fortsetzung meiner Forschung fehlen. Da wir in der Kategorie der Unzuverlässigen gelandet sind, ist es sehr unwahrscheinlich, dass wir unter dieser Regierung eine Anstellung in unserem Fachgebiet finden werden.“ Bei dieser Repression Andersdenkender in staatlichen Institutionen werden freilich nicht nur einzelne Existenzen zerstört, sondern auch Teile der Institution selbst. So war Ales Zlutka der letzte Spezialist für lateinische Handschriften am Institut für Geschichtswissenschaften. Der ebenfalls entlassene Wassili Woronin fasst es so zusammen: „Durch die Kündigungen von Mitarbeitern verliert das Institut wichtige Fachleute. Ganze Forschungsrichtungen sind geschwächt oder mussten ihre Tätigkeit praktisch einstellen.“

Dank der Unterstützung von Einrichtungen in Litauen, Polen und Deutschland haben die meisten entlassenen Wissenschaftler zunächst eine Perspektive bis zum Sommer 2021. Vor allem in den Nachbarländern können sie die Zeit im Exil nutzen, um ihre Studien über Landtage, Konföderationen, Landwirtschaftsformen, Wappen, Transportwege, Waffen und Schlösser in der frühen Neuzeit abzuschließen. Der Historiker Andrej Matsuk hat sich vorgenommen, das Gerichtswesen im 18. Jahrhundert näher zu untersuchen, nachdem er in Minsk zweimal zu je zwei Wochen Haft verurteilt worden war. Anfang Dezember hatten sich Nachbarn und Freunde bei ihm und den anderen Wissenschaftlern mit einer Feier im Hinterhof seines Neubaublocks bedankt. Sie hatten ein Transparent „Dank den Historikern“ dabei und mehrere Torten mit dem mittelalterlichen Wappen des Großfürstentums angefertigt, das bis 1996 Hoheitszeichen der Republik Belarus war.

Das Gericht hatte Matsuk nach dem Paragraphen 23.34 wegen der Teilnahme an einer illegalen Kundgebung verurteilt. Nach seiner Freilassung hat nun auch er eine Perspektive in Vilnius. Da die in Vilnius ansässige Europäische Humanistische Universität nur drei entlassenen Minskern je eine halbe Stelle anbieten konnte, haben die neuen Mitarbeiter umgehend vorgeschlagen, ihre Stellen nochmals zu halbieren, um so drei weiteren Kollegen eine Anbindung zu ermöglichen. Andrej Matsuk ist einer von ihnen.

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