Das kognitive Entsetzen über den Holocaust
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Von hier aus machte das Völkerstrafrecht große Fortschritte: Nürnberger Prozess am 3. Januar 1946 Bild: Picture-Alliance
Der Mord an den europäischen Juden wird immer wieder kolonialen Genoziden gegenübergestellt. Dabei muss man genau auf die Geltung und die Grenzen solcher Vergleiche achten. Ein Gastbeitrag.
Im Spätherbst 1939 empfing der russländische Historiker jüdischer Geschichte, Simon Dubnow, den polnisch-jüdischen Juristen Raphael Lemkin in seinem Haus in Kaiserwald – einem Ortsteil des lettischen Riga. Lemkin war aus dem von der Wehrmacht besetzten Warschau geflohen, hatte im litauischen Kowno (Kaunas) vorübergehend Zuflucht gesucht und sich alsbald nach Schweden begeben. 1941 erreichte er, über die Sowjetunion und Japan kommend, die Vereinigten Staaten. Dort prägte er 1944 den Begriff „Genozid“ und trug entscheidend dazu bei, diesen in der Ende 1948 von der UN-Vollversammlung beschlossenen Konvention gegen Völkermord zu verankern. Dubnow wurde Ende 1941 bei der „Räumung“ des Gettos von Riga von den Deutschen und ihren lettischen Helfern ermordet.
Das in Kaiserwald geführte Gespräch zwischen dem Historiker und dem Juristen drehte sich um die Frage, wie es sein könne, dass Massenverbrechen an national, ethnisch, rassisch oder religiös markierten Kollektiven straflos blieben, während individuelle Tötungsdelikte generell verfolgt werden. Bei allem Fortschritt, den das Völkerstrafrecht von „Nürnberg“ aus nahm, um vor mehr als zwanzig Jahren endlich mit der Einrichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs praktisch zu werden, dürfte diese Frage nicht hinreichend beantwortet worden sein. Dieses Manko dem durch politischen Kompromiss juristisch wenig trennscharf getroffenen Begriff vom Genozid allein anzulasten ist wenig hilfreich. Eher dürfte dies auf tief liegende, rechtsanthropologisch begründbare Erschwernisse zurückzuführen sein – so die Erschwernis, zwischen unterschiedlichen kollektiven Formen von Tötung zu unterscheiden.
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