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Post-kapitalistische Ökonomie : Wann kommt der digitale Sozialismus?

Im Supermarkt des Post-Kapitalismus: In Amazons „Fulfillment Centern“ läuft alles nach Plan Bild: Ulrich Baumgarten / vario images

Längst steuern Algorithmen Angebot und Nachfrage. Wozu brauchen wir eigentlich noch den Markt? Und schlägt nun die Stunde für eine neue Planwirtschaft?

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          Wer heute über die Utopie einer gerechten Gesellschaft nachdenkt, landet früher oder später in diesem Raum: Er sieht aus wie eine Mischung aus einer Bar und der Kommandobrücke eines Raumschiffs, in der Mitte stehen sieben ergonomische Sessel aus weißem Fiberglas mit orangefarbenen Polstern im Kreis. An den sechseckig angeordneten Wänden, vertäfelt mit dunklen Holzpaneelen, hängen Bildschirme mit bunten Diagrammen, die durch Knöpfe in den Lehnen abgerufen werden können, bereitgehalten in den Karussells von ein paar Diaprojektoren hinter den Wänden.

          Harald Staun
          Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung in Berlin.

          Der sogenannte Operations Room ist die Zentrale des Projekts Cybersyn, das Herz des Traums von einer kybernetischen Steuerung der Gesellschaft, den die chilenische Regierung von Salvador Allende zwei Jahre lang träumte. Hier liefen, in einem einzigen Großrechner, die Daten der wichtigsten Unternehmen des Landes zusammen – tägliche Produktionszahlen, Lagerstände, Materialverbrauch –, übermittelt durch ein Netz von Telex-Maschinen. Auch wenn die Technik aus heutiger Sicht fast analog wirkt, war die Idee des Projekts doch revolutionär: Mit Unterstützung des britischen Kybernetikers Stafford Beer wollte die junge chilenische Regierung den Sozialismus durch ein modernes Informationssystem zukunftsfähig machen. Das ständige Daten-Feedback sollte eine dynamische Planwirtschaft ermöglichen, die dank der Anpassungen der Produktion in Echtzeit nichts mehr mit bürokratischen Fünfjahresplänen zu tun hatte. Im gleichen Maße sollten die Sorgen und Wünsche der Bevölkerung erfasst und berücksichtigt werden durch ein von Beer entworfenes Glücks-Messgerät, den „algedonic meter“, auf dem die Bürger, etwa während der Debatte politischer Entscheidungen im Fernsehen, mit einem Drehknopf ihr Befinden zwischen „totaler Unruhe und totaler Zufriedenheit“ einstellen können. Ein Like-Button als Mittel der direkten Demokratie. Bevor sich Beers Ideen allerdings in der Praxis beweisen konnten, kam 1973 der Putsch, der die Regierung Allendes nach zwei Jahren mit Gewalt beendete. Auch weil sie nie Gelegenheit hatten, zu scheitern, sind die Versprechen des Projekts Cybersyn heute noch so lebendig.

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