Wahre Geschichten aus der wünschenswerten Zukunft (2) : Die essbare Stadt
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Harald Welzer Bild: Robert Wenkemann
Die 30.000 Bürgerinnen und Bürger der Stadt Andernach machen seit einiger Zeit eine erstaunliche Erfahrung. Ihre Stadt ist „essbar“ geworden. Der neue Wert der freien Flächen erzeugt auch einen anderen Umgang mit ihnen.
Vor zwanzig Jahren führte der damalige New Yorker Bürgermeister Rudolph Giuliani das Prinzip „Zero Tolerance“ ein: Jedes weggeworfene Stück Papier, jede leichtsinnig entsorgte Getränkedose, jede Beschädigung einer Parkbank führte unterschiedslos zur sofortigen Bestrafung des Verursachers. 100 Dollar für einen Hundehaufen - das war dann schon ein starkes Argument dafür, künftig mit dem Plastiktütchen loszugehen. Die Theorie, die „Zero Tolerance“ zugrunde lag, war einfach, aber plausibel, denn auf einen sauberen Bürgersteig schmeißt niemand seinen Müll, und bei intakten Gebäuden werden keine Fensterscheiben eingeworfen. Die Sache hat bekanntlich funktioniert. Achtsamkeit erzeugt Achtsamkeit.
Dasselbe geht auch mit Gemüse. Die 30.000 Bürgerinnen und Bürger der Stadt Andernach machen seit einiger Zeit eine erstaunliche Erfahrung damit. Ihre Stadt ist nämlich, mit einem Slogan der örtlichen Landespflege, „essbar“ geworden. Dort, wo sich die Grünraumplanung normalerweise auf Liguster, Rhododendron und Bodendecker beschränkt, wachsen in Andernach seit ein paar Jahren Zucchini und Mangold. An der Friedhofsmauer ranken Bohnen. Wo früher Pinkelecken und Hundeklos waren, gedeihen heute Kartoffeln. Und auf die pinkelt keiner. Der Effekt ist derselbe wie seinerzeit in New York. Der neue Wert der freien Flächen erzeugt auch einen anderen Umgang mit ihnen. Man führt seinen Hund nicht auf dem Beet aus, und wer es doch tut, wird sicherlich direkt ermahnt.
Eine Möglichkeit, wo andere keine gesehen haben
Es ist erstaunlich, wie ein solcher zunächst bizarr erscheinender Eingriff in den öffentlichen Raum wirkt: Wo man andernorts das allfällige Friedhofsgrün mit Gleichmut hinnimmt, erschließt sich hier, dass auch eine Stadt landwirtschaftliche Nutzflächen in erstaunlichem Umfang bietet. Damit ist das beschauliche Andernach vielen Großstädten voraus, in denen es neuerdings in Mode gekommen ist, „urban gardening“ zu treiben, also Brachflächen zwischenzeitlich als Anbauflächen für allerlei Gemüse zu nutzen. Denn der Stadtgarten ist hier kein exotischer Sonderfall, sondern urbane Normalität, nur eben der anderen Art.
Initiiert hat sie der städtische Landespfleger Lutz Kosack, dem das übliche Dauergrün und seine Pflege ebenso unästhetisch wie sinnfrei erschienen. Der Austausch des Üblichen gegen das Unübliche löste bei den Bürgerinnen und Bürgern natürlich erst mal Irritationen aus. Nicht nur, dass es schon ziemlich ungewohnt ist, in einer Stadt öffentliche Güter vorzufinden, die man mit gutem Gefühl und reinem Gewissen ernten kann, auch der kompetente Umgang mit den neuen biologischen Gegebenheiten musste erst gelernt werden. Dass man Kartoffeln und Radieschen nicht mal kurz aus dem Boden ziehen kann, um nachzuschauen, ob sie schon reif sind, gehört zu den neuen Andernacher Lernprozessen. Im Moment wird in Kosacks Amt gerade über ein Ampelsystem nachgedacht, das den Zufallsgärtnern die Orientierung erleichtern soll. Das alles macht deutlich, dass so ein Eingriff in die Benutzeroberfläche einer Stadt nicht nur ökologische, sondern ganz erhebliche soziale Folgen hat. Ältere Andernacher erinnern sich wieder daran, was sie mal über Saat und Anbau gewusst hatten, jüngere entwickeln ganz neue Identifikationen mit ihrer Stadt. Die wird wahrscheinlich ein Modellfall für die weltweite „Transition town“-Bewegung. Denn auch dort, wo kommunale Strukturen von unten verändert werden, spielt das „urban gardening“ eine wichtige Rolle. In Form von Gemeinschaftsgärten auf temporären städtischen Brachen führt es allerdings vorerst nur ein randständiges Dasein. In Andernach ist es Ausdruck einer inzwischen auch vielfach mit Preisen ausgestatteten städtischen Kultur.
Die essbare Stadt, sie zeigt, was geht, wenn man wie Lutz Kosack eine Möglichkeit sieht, wo andere Planer keine gesehen haben. Städtischer Raum, zeigt Andernach, kann mehr sein als das, was irgendwie übrig ist, wenn man Straßen- und Parkraum abgezogen hat. Er wird zur Kenntlichkeit verfremdet: zum sozialen Raum, der allen gehört und auf geradezu poetische Art die Stadt besser macht, als sie vorher war.