Vorzüge des E-Books : Mit Charles Dickens auf dem Crosstrainer
- -Aktualisiert am
Für John Hennessy sind digitale Lesegeräte unverzichtbar, aber auch gedruckte Bücher braucht er zum Leben Bild: dpa
Er war der akademische Lehrer der Google-Gründer, seine Forschung steckt in den Spielkonsolen von Sony und Nintendo. Hier schreibt John Hennessy, Präsident der Stanford University, über die Vorzüge des digitalen Buches.
Ich lese gewöhnlich drei, vier Bücher parallel - ein Sachbuch (ein Geschichtswerk oder eine Biographie, gelegentlich auch etwas Naturwissenschaftliches), einen Roman (oft einen Klassiker oder ein Werk, das gerade mit einem Preis ausgezeichnet wurde) und etwas Leichteres (einen Krimi oder einen Science-Fiction-Roman) für die Viertelstunde zwischen Zubettgehen und Einschlafen oder für die dreißig Minuten Schlaflosigkeit um zwei Uhr morgens.
Außerdem verwende ich Audiobücher oder -vorträge bei Spaziergängen, im Fitnessstudio und bei meinen wöchentlichen Wanderungen. Meine Hörbuchliteratur besteht zu gleichen Teilen aus Romanen und Sachbüchern, die Vorträge stammen aus unterschiedlichen Quellen, aber besonders gern greife ich auf die „Entitled Opinions about Life and Literature“ meines geschätzten Kollegen Robert P. Harrison zurück.
Eingebettet in ein Datennetzwerk
Meine Lesegewohnheiten bringen mich gleich zu dem ersten großen Vorteil digitaler Bücher. Ich kann eine ganze Bibliothek auf einem einzigen E-Book-Reader mit mir führen. Allein schon dieser Vorteil, ganz abgesehen von dem Gedanken an die Bäume, die für mich lebendige Natur und nicht bloß Papierlieferanten sind, könnte mich veranlassen, auf das gedruckte Buch zu verzichten. Ich habe aber noch viele andere Vorteile festgestellt. Eine besondere Rolle spielt das verbesserte Leseerlebnis.
Zwei Beispiele wären hier zu nennen: Lesen beim Fitnesstraining und im Bett nachts um zwei Uhr. Die große Schrift auf meinem E-Reader bietet den Vorteil, dass ich auf dem Crosstrainer lesen kann und am Ende den Eindruck habe, die halbe Stunde sei schneller vergangen und noch sinnvoller genutzt. Und beim gedimmten Schein eines Lesegeräts um zwei Uhr nachts wecke ich meine Frau nicht auf, was bei der offenbar altersbedingt zunehmenden Schlaflosigkeit ein enormer Vorteil ist.
Ein Freund digitaler Bücher bin ich aber auch deswegen, weil das E-Buch in ein Datennetzwerk eingebettet ist. Ich verwende sehr gern elektronische Lesezeichen und Hervorhebungen, vor allem bei der Lektüre von Büchern, die mir für künftige Vorträge oder Artikel als Quelle dienen können. Seit vielen Jahren komme ich in meiner Begrüßungsrede für die neuen Studenten auf die Bücher zu sprechen, die ich gerade gelesen habe - von George Washington über Nelson Mandela bis zu Steve Jobs.
Die Vorteile überwiegen
Ein weiterer Vorteil ist der unmittelbare Zugang zu einem Wörterbuch. Fans von Patrick O’Brian, dem Verfasser der marinehistorischen Aubrey-Maturin-Romane, erweitern regelmäßig ihren Wortschatz, aber bei Begriffen wie „accoucheur“, „Dyak“, „folie circulaire“, „libeccio“, „pelisse“, „turlough“ oder „vali“ ist ein Wörterbuch unentbehrlich. Vertieftes Nachdenken darüber, ob ich wohl eine Verwendung für eines dieser Wörter finden werde, könnte zu einem Fall von „folie circulaire“ führen (heutzutage unter dem Begriff bipolare Störung bekannt), aber trotzdem gefällt mir diese Möglichkeit.
Ein weiterer Vorteil von E-Büchern ist der Umstand, dass man einzelne Begriffe nachschlagen und Querverweisen in Form von Links folgen kann. Auch wenn das vielleicht dazu führt, dass man leichter als im gedruckten Buch überspringt, erscheint es mir sehr sinnvoll, etwas nachschlagen zu können oder sich per Link noch einmal eine Figur vor Augen zu führen, sich eine Definition, einen Gedanken oder eine Begebenheit in Erinnerung zu rufen. Der Versuchung, der Handlung vorzugreifen, widerstehe ich genauso wie dem Bedürfnis, das letzte Kapitel eines Thrillers von Wilkie Collins vor den vorangehenden zu lesen.
Aber ist es nicht ein Verlust, kein gedrucktes Buch mehr in den Händen zu halten und beim Umblättern nicht mehr das Papier zu spüren? Sicher, doch wenn ich nicht gerade eine reichverzierte mittelalterliche Handschrift betrachte oder eine Frakturschrift vor mir habe, die zwar schön aussieht, die ich aber nur mit allergrößter Mühe lesen kann, reichen die sinnlichen Eindrücke der klassischen Buchlektüre nicht an die zahlreichen Vorteile eines E-Readers und eines elektronischen Buchs heran.
Wie wir lesen
Gibt es Fälle, wo ich die Papiervariante weiterhin sinnvoll finde? Ganz gewiss. Die „New York Times“ lese ich in der gedruckten Ausgabe am Küchentisch, aufgeschlagen liegt sie vor mir, in einer Größe, wie sie keiner meiner Bildschirme darstellen kann. Ich empfinde es als sehr angenehm, mit einem Blick die Schlagzeilen erfassen und die Artikel überfliegen zu können, um dann zu entscheiden, was ich ausführlich lesen will. In der Printausgabe geht das viel besser als auf einem Bildschirm oder einem E-Book-Reader. Junge Leute würden vermutlich sagen, dass ich einfach mehr Übung brauche oder mein Lesegerät anders einstellen muss, und wahrscheinlich haben sie sogar recht, aber noch lese ich die Zeitung in der gedruckten Ausgabe und gebe sie der Umwelt zuliebe zum Altpapier.
Auch bei anderen Gelegenheiten ziehe ich die gedruckte der elektronischen Form vor, nämlich immer dann, wenn ich komplexes Material aufmerksam lesen will, beispielsweise Abschlussarbeiten meiner Studenten oder ein Kapitel, das mein Kollege zu unserem Informatiklehrbuch beigesteuert hat. In solchen Fällen kann ich mich offenbar besser auf den Inhalt konzentrieren. Ich habe auch festgestellt, dass ich Anmerkungen lieber per Hand auf Papier schreibe, statt sie in Form elektronischer Kommentare einzufügen. Ich weiß nicht, ob diese Fähigkeit, sich besser auf Gedrucktes zu konzentrieren, nur ein Produkt meiner Erfahrung ist oder ob es damit zu tun hat, wie wir lesen, wenn wir uns mit einem hochkomplexen Stoff beschäftigen.
Als Autor schreibe ich, abgesehen von kurzen brieflichen Mitteilungen und kurzen Artikeln, hauptsächlich Vorträge und Fachtexte auf dem Gebiet der Informatik. Das sind zwei ganz unterschiedliche Bereiche. Bei einem Vortrag geht es darum, das richtige Wort zu finden, einen guten Einstieg und Schluss zu finden. Das sind handwerkliche Fragen. Den Redeentwurf drucke ich jedes Mal aus, lese ihn laut vor und überarbeite ihn, bis ich zufrieden bin. Am Bildschirm lässt sich ein Text nicht annähernd so gut bearbeiten, das funktioniert irgendwie nicht.
Das Überleben großer Autoren
Wenn ich einen Text für ein wissenschaftliches Lehrbuch schreibe, konzentriere ich mich darauf, einen komplexen Gedanken und die notwendige Serialisierung von interagierenden grundlegenden Prinzipien zu erklären, die jeweils verstanden werden müssen, um diesen Gedanken vollständig erfassen zu können. Dem Leser hilft es, wenn ihm zunächst einmal das große Ganze dargelegt wird, aber richtig verstehen wird er den Gedanken nur anhand einer detaillierten schrittweisen Erklärung. Für mich als Autor von komplexen technischen Stoffen ist es eine besondere Herausforderung, solche Erklärungen zu entwickeln.
Ob die enorme Arbeit, komplexe Strukturen zu serialisieren und in verständliche Elemente zu zerlegen, im digitalen Zeitalter noch sinnvoll ist, wird sich zeigen. Ich befürchte, dass künftige Leser für lange Erklärungen komplexer Zusammenhänge nicht mehr die nötige Geduld aufbringen. Tatsächlich verheißt die Begeisterung junger Leute für elektronische Medien und ständiges Multitasking nichts Gutes für die absolute Konzentration, die für das Erfassen komplexer Strukturen unabdingbar ist. Vielleicht werden die potentiellen Nachteile durch andere Vorteile aufgewogen, etwa die Möglichkeit, auf andere Beispiele zu verlinken oder eine Erklärung je nach Bedarf mit weiteren Details anzureichern. Für den Autor wäre das mit zusätzlichem Aufwand verbunden, für den Leser könnte es vorteilhaft sein. Wir werden sehen.
Und schließlich erwähne ich noch einen letzten Vorteil des digitalen Buchs. Ich finde es fabelhaft, dass ich die gesammelten Werke von Charles Dickens, Victor Hugo, Mark Twain, Fjodor Dostojewskij oder Jane Austen in absolut haltbarer Form für wenig Geld erwerben kann. Das gibt mir die Hoffnung, dass diese großen Autoren auch noch in Jahrhunderten begeisterte Leser haben werden.
Aus dem Englischen von Matthias Fienbork.