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Vertrag der neuen Koalition : Wie Rot-Rot-Grün Berlin umerziehen will

Klaus Lederer (Die Linke), Bürgermeister Michael Müller (SPD) und die Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen im Abgeordnetenhaus, Ramona Pop, blättern im gemeinsamen Koalitionsvertrag. Bild: dpa

Mit dem Senat in Rot-Rot-Grün wird sich die Stadtgesellschaft atomisieren: Die eigene Klientel bekommt alle Wünsche erfüllt, und die Ideologie bestimmt die Politik – bis ins Detail. Ein Kommentar

          6 Min.

          Wir spüren, dass die Fliehkräfte in unserer Gesellschaft zunehmen“, hatte Michael Müller, Berlins Bürgermeister, in seiner ersten Regierungserklärung gesagt. Erklärt wurde das nicht weiter. Vielleicht meinte er aber doch, was jeder beobachten kann, dass, anders gesagt, die Bindekräfte, das, was eine Gesellschaft zusammenhält, schwächer geworden sind. Wer im fast zweihundert Seiten starken Koalitionsvertrag der Stadtregierung liest, die sich trotz stotternder Premieren unverdrossen selbst lobt, wird kaum Hoffnung schöpfen, dass sich die Sache mit den Flieh- oder Bindekräften unter ihr zum Guten wenden könnte. Die Versprechen für die Gesamtheit klingen wolkig, bestenfalls selbstverständlich (sozial, Teilhabe, solidarisch), umso lauter werden Gruppenwünsche artikuliert.

          Regina Mönch
          Freie Autorin im Feuilleton.

          Rot-Rot-Grün ist eine gute Koalition für Partikularinteressen und die Umerziehung der Stadtgesellschaft, damit sie das akzeptiert. Sollte alles umgesetzt werden, läuft sie jedoch Gefahr, atomisiert zu werden. Weltfremder ist Berlin wohl noch nie regiert worden, sofern man die täglichen Wunderkerzen der Stadtpolitik als Regieren hinnehmen will.

          Vermisst werden überzeugende Konzepte

          Der kleinteilige und detailversessene Koalitionsvertrag mutet in Teilen wie gebündeltes Misstrauen an, vielleicht aus der begründeten Furcht, ein politischer Partner könnte sonst den anderen über den Tisch ziehen mit unverhofft realitätskonformen Plänen. Selten oder gar nicht tauchen die gewaltigen strukturellen Probleme der Stadt auf, die Sicherheitsprobleme, die akute Gefährdungslage, der lahmende Verkehr, die kaputten Straßen und Schulen. Vermisst werden überzeugende Konzepte, wie man etwa möglichst schnell siebzig bis hundert neue Schulen zu bauen gedenkt, weil man sich, wie es dann immer heißt, auf falsche Prognosen verlassen hat. Weil niemand, der für richtige Prognosen hätte sorgen müssen, bemerkte, dass es über 80000 Kinder mehr gibt als Plätze in den Schulen. Im Koalitionsvertrag ist unscharf von „alternativen Finanzierungsmöglichkeiten“ die Rede, mit denen man diesem euphemistisch als „Investitionsstau“ beschriebenen Zustand „beschleunigt“ zu Leibe rücken will.

          Die Senatorin, unter der dieser unbehauste Schülerberg anwuchs, ist dieselbe geblieben. Unangefochten von der Tatsache, dass Berlin unter ihrem Management zum Schlusslicht bei Schulleistungsvergleichen avancierte und die meisten Schulversager hat, griff sie sogleich die Lehrer an, denen sie mehr „Selbstevaluation“ empfiehlt. Das ist auch eine Haltung. Das Bildungssystem der Stadt ächzt unter den Folgen zahlloser, meist unausgereifter Reformen, zumindest nannte man sie so. Ob dieser vorsätzliche Murks am Kind, der immer mal wieder zurückgenommen wurde, wenn er sich als völlig untauglich erwies, nun ein Ende hat, ob Berlins Schulen zum Erprobten, Zuverlässigen zurückkehren dürfen, darüber steht nichts im Vertrag.

          Zu viele widerstreitende Nischenprojekte drängen auf die politische Bühne

          Aber diese Reformitis dürfte eine der Ursachen sein, warum hier so viele Kinder nur unterdurchschnittliche Leistungen erreichen. Umstellt von sozialen Reparaturangeboten und zahllosen Präventionsmaßnahmen, zuweilen von abenteuerlicher Natur, wächst die große Gruppe der Risikoschüler an, ohne dass es einmal zu einer unideologischen Aufarbeitung gekommen wäre. Die Hoffnung, dass sich das mit dieser Koalition ändert, geht gegen null, zu viele widerstreitende Nischenprojekte drängen jetzt auf die politische Bühne.

          Dreieinhalb Millionen Menschen leben in Berlin, sehr, sehr viele sind ganz oder zum Teil auf staatliche Transferleistungen angewiesen. Das soll sich, allgemein und vage versprochen, alles verbessern. Da erstaunt es schon, wie nachdrücklich an anderer Stelle auf Nebensächlichkeiten wie spezielle Tierversuche und eine zu erlassende Schutzordnung für freilaufende Katzen eingegangen wird. Auch müsse der „Einstieg beim Bus grundsätzlich an allen Türen erlaubt sein“ und soll ein „Mehrwegbechersystem“ eingeführt werden. Wortungetüme wie „Bürger*innenschaftliches Engagement“ beleidigen den Stilisten, sind aber gerade noch zu verstehen. Im Gegensatz zum „muskelbetriebenen Wassersport“ auf dem Berliner Müggelsee. Wieso das Regierungshandeln erfordert, verstehe, wer kann.

          Mit sektenartigem Eifer soll die Mehrheitsgesellschaft erzogen werden

          Ganze Seiten widmen sich der „Förderung von Selbstbestimmung und Selbstorganisation“ der LSBTTIQ*-Communities, der „Lesben, Schwulen, Bi- und Transsexuellen, Transgendern, Intersexuellen und Menschen, die sich als Queer verstehen“. Es geht um „queere Jugendzentren“, Mehrelternschaften und Ähnliches. Mit sektenartigem Eifer soll die Mehrheitsgesellschaft zur bedingungslosen Akzeptanz dieser Seltenheiten erzogen werden. Es ist nur ein Beispiel von vielen für eine Minderheitenpolitik, die Herkunft oder Geschlecht betont und wie die Erlösung vom Bindekraftmangel daherkommt, aber das Gegenteil, die Spaltung, bewirkt. Mit dem Lebensalltag, gar mit der Gefährdung der Stadt, hat sie wenig zu tun.

          So wenig wie das erste Projekt des neuen grünen Justizsenators, der leidenschaftlich verkündete, in Behörden Unisex-Toiletten einzurichten – ein LSBTTIQ*-Versprechen. Glaubensfragen dieser Art als Koalitionsaussagen lassen viele zweifeln, ob das ideologisch recht bunt konnotierte Bündnis hält und vor allem, ob es damit wie versprochen „gut regieren“ wird. Das dürre Sicherheitskonzept des Koalitionsvertrages, voller Misstrauen gegen die Polizei, die Ablehnung von Abschiebungen als Menschenrechtsverletzung und ähnliche Verstiegenheiten sind zwar nach dem Schock des Attentats etwas relativiert worden. Doch im Großen und Ganzen macht die Berliner Politik so weiter, wie sie angefangen hat, auch wenn die SPD Richtung Zentrale signalisiert, sie habe verstanden, dass das nicht mehr geht.

          Bloß nichts Festes installieren!

          Absurd klingen die neuen Beschlüsse zur Videoüberwachung, die nicht nur wegen der Terrorgefahr noch einmal überarbeitet wurden. Bloß nichts Festes installieren! Das geht gegen die Überzeugung vor allem der Grünen, deren Sprecherin im Abgeordnetenhaus, gegen die Oppositionsbänke gerichtet, triumphierte, in „so einer Situation“ habe man „Mut zur Freiheit“ gehabt. Unter Linken gilt feste Videoüberwachung sowieso als Propaganda und nutzlos – weiterer Beleg für eine manifeste Wahrnehmungsschwäche. Darum werden gerade jene Plätze und Viertel der Stadt, die unter Kriminalität leiden, weiterhin nur „anlassbezogen“ überwacht. Also erst dann, wenn noch mehr passiert ist. Polizisten raufen sich die Haare, Diebesbanden und die wohlhabenden Drogendealer atmen auf. Letztere vielleicht doch ab und an vor Gericht zu bringen bleibt also Illusion. Im Kreuzberger Görlitzer Park, einem weltbekannten Drogenumschlagplatz, haben es Dealer jetzt schon richtig nett, sind sie doch als zu befürsorgende Gruppe, die an sogenannter Perspektivlosigkeit leidet, in das neue Parkkonzept einbezogen. Das, nur nebenbei, liest sich wie eine Realsatire.

          Kulturpolitik liest sich im Koalitionsvertrag wie ein Künstlersozialplan, auch für die eher nicht gemeinnützige Clubkultur. Wobei auffällt, dass die Hochkultur kaum erwähnt wird – und vielleicht ist das sogar gut –, bis auf die Ankündigung, die vom Land Berlin bezahlten „Vergütungen in Spitzenpositionen“ künftig öffentlich zu machen. Eine „ressortübergreifende Kulturpolitik“ wird angestrebt: Also alle machen mit und vernetzen sich. Wer den Hut aufhat, ob überhaupt einer, ist nicht zu erkennen. Gerade erst, nach vier Monaten, ist der endgültige Zuschnitt der Senatsbehörden ausgehandelt worden. Und, o Wunder, Berlins gedemütigter Denkmalschutz, bisher bei Bauen und Stadtentwicklung angesiedelt und dort fast zum Schweigen gebracht, kommt unter das Dach der Kulturverwaltung. Forsch hat Senator Lederer (Linke) als neu ernannter Denkmalshüter angekündigt, dass mit ihm so ein Sündenfall, wie es die ungeheuerliche Beschädigung der Friedrichswerderschen Kirche ist, nie geschehen wird. Glauben wir es lieber, obwohl erinnert sein soll, dass der Bebauungsplan für Tiefgaragen und Häuser an der Kirche, die den Schaden verursachten, widerspruchslos durchs Parlament gewinkt wurde, dessen Mitglied er war. Namens der Linken hat der Senator außerdem angekündigt, das Neutralitätsgesetz (Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst) zu kippen.

          Zur Not sogar gegen die eigene Partei

          Zu guter Letzt ein erster Skandal: Unter den 25 Staatssekretären (fiskalisch gesehen kommen noch etliche Ehemalige hinzu, in den gutdotierten, einstweiligen Ruhestand geschickt) ist einer, dessen kurzzeitige Tätigkeit beim Staatssicherheitsdienst ein ernstes Problem für den Senat werden könnte. Über Andrej Holms Vergesslichkeit, was er als Hauptamtlicher gemacht oder unterlassen hat, ist schon viel geschrieben worden. Dabei ging unter, was ihn, außer dem Engagement gegen überbordende Gentrifizierung, für den politischen Spitzenposten qualifiziert. Die Baubehörde ist eine der größten und vielgestaltigsten. Er soll ihr Amtschef sein, hat aber keine Verwaltungserfahrung. Über die Stasi-Zeit soll, was feige ist, aber gute Berliner Tradition der Verantwortungsdelegierung, die Humboldt-Universität richten. Ob er sich aus dem ideologischen Milieu seiner Kampagnen für eine andere Stadt, das in Teilen recht brachial agiert, gelöst hat, interessiert gar niemanden. Es sieht so aus, als wolle seine Chefin, die linke Senatorin Lompscher, mit ihm ausloten, wie weit man gehen kann. Zur Not sogar gegen die eigene Partei, die zwar ein problematisches Verhältnis zur eigenen Geschichte hat, aber niemanden mit Stasi-Vergangenheit in politischen Spitzenämtern haben will. Der Ausgang ist ungewiss, auch wenn linke Abgeordnete Andrej Holm gern als Präzedenzfall für eine nötige Aussöhnung anpreisen. Ob mit ihnen oder den Opfern der Diktatur, ist nicht herauszufinden.

          Die große Stadt hat Schlimmeres ertragen, auch diese Regierung wird sie nicht ruinieren. Aber ob sie mit ihr lebenswerter, sicher wird, ob sie wieder starke Bindekräfte entwickeln kann, steht noch nicht einmal in den Sternen.

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