Rassismus in Amerika : Stellt euch in die zweite Reihe
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Antirassistischen Proteste in New York: Auch viele Weiße waren unter den Demonstranten. Bild: AFP
Für viele Amerikaner bedeutet der falsche Polizist Lebensgefahr: In den Vereinigten Staaten gewinnt die Bewegung gegen die strukturelle weiße Vorherrschaft immer mehr Unterstützer.
„Euer Law- and Order-Präsident“ nannte sich Donald Trump am Montag, als er mit dem Einsatz der Armee gegen Demonstranten drohte. Der amerikanische Präsident will die kollektive Wut, die sich auch in Gewalt ausdrückt, ähnlich nutzen, wie es 1968 Richard Nixon tat. „Law and Order“ war dessen erfolgreiches Wahlkampf-Motto, nachdem 125 Städte Unruhen erlebten, als Martin Luther King erschossen worden war.
Einige Tage zuvor hatte Trump schon die Aussage eines ehemaligen Polizeichefs von Miami zitiert, der 1967 gedroht hatte: „Wenn die Plünderungen anfangen, fängt das Schießen an.“ Trump behauptete, die Geschichte des damals gegen junge Schwarze in Armenvierteln gerichteten Satzes nicht zu kennen. Der Präsident liest nicht. Aber seine rechten Berater wie Stephen Miller kennen ihre amerikanische Geschichte ganz genau. Trumps Geschäft ist das der Spaltung, heißt es auf allen Medienkanälen. In diesen Tagen sieht es so aus, als stünde Amerika vor einem nie dagewesenen Abgrund, als könne der Präsident das Land jederzeit autokratisch aus den Angeln heben, die Wahlen absagen und das Coronavirus und jetzt die Proteste als Vorwand nutzen. An Schreckensvisionen herrscht kein Mangel.
Bevor die Protestwelle der vergangenen Woche begann, bevor das Video von George Floyds Tod um die Welt ging – also gefühlt in einer anderen Zeit –, ging der Schwarze Christian Cooper im New Yorker Central Park Vögel beobachten. Amy Cooper, deren Nachname durch Zufall auch seiner ist, führte ihren Hund ohne Leine aus. Ein fast normaler Tag, trotz Coronavirus. Der Vogelfreund ermahnte sie deswegen – und fing an zu filmen, während Amy Cooper eine Show abzog. Sie hatte nicht lange gefackelt und den Notruf gewählt. Mit gespielter Panik in der Stimme sagte sie, „ein afroamerikanischer Mann“ bedrohe sie. Eine weiße Frau in Opferpose kann einen schwarzen Mann leicht in die Gewalt der Polizei bringen – und damit potentiell in den Tod, sagten die Kommentatoren. Wie real diese Todesgefahr ist, drängte sich dann durch das Schicksal von Floyd mit Wucht ins Bewusstsein.
Die Geschichte um Amy Cooper erinnerte aber auch an die vielen ganz alltäglichen Vorkehrungen, die schwarze Männer treffen, um sich zu schützen. Manche geben ihren weißen Freunden die alkoholischen Getränke zum Transport, wenn sie zusammen zum Picknick in den Park fahren – für den Fall, dass die Polizei etwas zu beanstanden hat. Andere lassen immer die weiße Freundin das Taxi rufen, denn dann hält wenigstens eins.
Der Mob macht blutige Jagd
Weiße müssen sich normalerweise nicht mit diesen Realitäten auseinandersetzen. Umso stärker ist jetzt das Entsetzen bei vielen von ihnen. Diejenigen, die die „Spaltung“ des Landes beklagen und angesichts der Wut auf den Straßen ganz besonders schockiert sind, haben sich ein Bild von Einheit, Ordnung und weißer Homogenität gemacht, dem die Vereinigten Staaten noch nie entsprachen. Es ist so real wie ein Werbefilm der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts.
Für Menschen, die arm sind oder nicht weiß, war das Land nie einig, sie hatten nur weniger Mittel, um ihre Sicht der Dinge unter die Leute zu bringen als heute. Was „weiß“ war, das wechselte zudem, weswegen selbst die Vorstellung einer früher mal einheitlicher „weißen“ Nation in die Irre führt. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts machten Mobs etwa blutige Jagd auf Griechen in Omaha in Nebraska, wegen ihrer Hautfarbe. Und bis zum Zweiten Weltkrieg wurden Juden an den Universitäten diskriminiert.
Integrationsfördernd für zugezogene Weiße oder solche, die es werden wollten, war seit den Anfängen der amerikanischen Nation das Nach-unten-Treten auf alle, die etwas weniger weiß waren, und auf Schwarze. Das entsprang keinen „natürlichen Impulsen“, wie der Alltags-Rassist sie manchmal anführt – das Angebot, sich so trotz der eigentlich oft gemeinsam erlebten Ausbeutung überlegen zu fühlen, war eher eine Strategie von Fabrikbesitzern und Honoratioren, wenn sie Solidarität von Arbeitern und neuen Einwanderern untereinander verhindern wollten.
Ob Amerika erst jetzt vor einem „Abgrund“ steht oder immer schon dort stand, das kommt auf die Perspektive an. Die afroamerikanische Journalistin Nikole Hannah-Jones rief im vergangenen Jahr zum vierhundertsten Jahrestag des Sklavenhandels in Nordamerika das „1619 Projekt“ der „New York Times“ ins Leben.