Botschafter Melnyk im Gespräch : „Alle Russen sind gerade unsere Feinde“
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Aber einer der Teilnehmer war doch der russische Pianist Jewgeni Kissin, der sich als einer der Ersten von Putins Angriffskrieg distanziert hat. Auch der andere russische Teilnehmer, der Bariton Rodion Pogossov, ist nur in Russland geboren, lebt aber schon lange in den USA. Schaden Sie mit einem solchen Boykott nicht dem potentiellen Widerstand, den es in der russischen Gesellschaft ja auch gibt?
Der Hintergrund der Beteiligten spielt keine Rolle. Denn der Bundespräsident hat das absichtlich als „Zeichen des Friedens“ organisiert. Er wollte, dass ein russischer Pianist und ein russischer Bariton auftreten und der ukrainische Botschafter dabeisitzt. Darin liegt eine Provokation, die Sie nicht verstehen können. Und das kann ich auch nachvollziehen, denn Sie erleben diesen Krieg nicht mit eigener Haut. Uns kann es jetzt nicht darum gehen, zwischen bösen Russen und guten Russen zu unterscheiden. Denn Russland führt einen Krieg gegen die Ukraine. Es ist nicht Putin, der Menschen in Butscha ermordet hat. Das waren konkrete Menschen aus verschiedenen Regionen Russlands. Sie haben ihre Verwandten, sie telefonieren nach Hause, sie plündern Häuser. Wir haben Tausende Telefonate, die wir aufgezeichnet haben als Beweisstücke für das Kriegstribunal. Ich sage es ganz klar: Russland ist ein Feindstaat für uns. Und alle Russen sind Feinde für die Ukraine im Moment. Das kann sich ändern. Aber im Moment ist es so, dass wir keine Zeit haben zu fragen: „Bist du gegen Putin oder für ihn – oder hast du vielleicht nur teilweise Verständnis ?“ Für mich wird es keine gemeinsamen Konzerte geben, solange Bomben auf ukrainische Städte fallen.
Haben Sie keine russischen Freunde?
Nein, nie gehabt. Aus einem einzigen Grund: weil das, was wir heute erleben, schon seit vielen Jahrzehnten geplant war. Und dieser Krieg wird getragen von Menschen, von Russen – manche werden in diesen Krieg geschickt, manche entscheiden sich aus freien Stücken dazu. Aus der Überzeugung, dass sie die Ukraine vernichten wollen. Und deswegen ist für mich klar, wahrscheinlich auch nach dem Krieg, dass Russland ein Feindstaat bleiben wird.
Aber warum richtet sich Ihre Feindschaft auch gegen die russische Kultur?
Damit Sie mich richtig verstehen: Für uns, für meine Frau und mich, war der Höhepunkt des Jahres, als wir noch in Kiew gewohnt haben, immer am Nachmittag des 31. Dezember in die Staatsoper zu gehen, um den „Nussknacker“ von Peter Tschaikowsky zu hören, das heißt, es geht nicht um russische Komponisten, die wir lieben und lieben werden. Es geht darum, dass es im Moment einfach keinen Anlass gibt, russische Kultur mit Russen gemeinsam zu genießen.
Sie sagen, ich könne das nicht verstehen, auf der anderen Seite müssen Sie auch meine Erschütterung anerkennen, wenn Sie sagen „Alle Russen sind Feinde“, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass so ein Satz den Krieg beenden wird.
Schauen Sie, wir haben keine Illusionen, auch in Bezug auf die sogenannte russische Opposition. Denn auch von einem Herrn Nawalnyj, der jetzt leider im Gefängnis sitzen muss, können wir nichts Gutes erwarten. Egal ob an der Machtspitze oder in der Opposition: Die Ukraine war, ist und wird wahrscheinlich für lange Zeit ein Feind der russischen Gesellschaft bleiben. Das liegt daran, dass die russische Propaganda seit der Krimannexion auf Hochtouren gelaufen ist. Jeder, der sich mit Russland auskennt, weiß, dass es für die Propagandisten des Kremls auf allen Kanälen nur ein einziges Thema gab: die Ukraine als Erzfeind Nummer eins darzustellen.
Aber wie passt das zu den vielen Geschichten der Familien in der Ukraine, die enge Beziehungen zu Russland haben?
Ich kann Ihnen eine Geschichte aus meiner Familie erzählen. Von meiner Schwiegermutter, sie ist halb Russin, und ihrer Schwester, die seit vielen Jahrzehnten in Moskau lebt. Es gibt keinen anderen Menschen, der wichtiger gewesen wäre für meine Schwiegermutter. Am ersten Kriegstag hat die Schwester aus Moskau meine Schwiegermutter angerufen und gefragt: „Was ist los bei euch?“ Und meine Schwiegermutter hat ihr ein Video geschickt, mit dem Geheul der Sirenen, den Raketen, den Anschlägen. Aber ihre Schwester sagte: „Das ist alles Blödsinn, was erzählst du mir, das ist alles nachgestellt, das ist nicht wahr.“ Und meine Schwiegermutter hat geweint und hat gesagt: „Von diesem Tage an habe ich keine Schwester mehr.“ Putins Propaganda hat ganze Arbeit geleistet. Man kann nicht erwarten, dass bald wieder Frieden herrscht. Wir können nicht einfach zur Normalität zurückkehren. Das wird nicht geschehen.
Das Gespräch führte Simon Strauß.
Eine Langfassung dieses Gesprächs hören Sie im F.A.Z.-Podcast für Deutschland.