Eine Ukrainerin im Kanzleramt : Weltuntergang? Dann soll es halt so sein!
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Bundeskanzler Scholz setzt die Tradition seiner Vorgänger fort, durch die Staatsministerin für Kultur zu Dichterlesungen im Kanzleramt einzuladen. Am 28. März 2022 bekam er eine Bitte um Waffenhilfe zu hören. Bild: dpa
Statt ein Gedicht zu kommentieren, hält eine ukrainische Sängerin vor Olaf Scholz eine Rede über den Krieg. Ein Schreck fährt durch das Publikum, als sie Waffenhilfe auch um den Preis des Weltuntergangs fordert.
Gerechtigkeit soll geschehen, auch wenn die Welt dabei untergeht. Das sagt ein geflügeltes Wort aus dem alten Europa, überliefert als Wahlspruch von Kaiser Ferdinand I., dem Bruder und Nachfolger Karls V. Formuliert wurde die Devise in einer geistigen Umwelt, in der die Mächtigen noch glauben konnten, sie könnten durch falsches Handeln den außerweltlichen Herrn der Welt erzürnen und damit das nach dem Ratschluss dieses Herrn früher oder später ohnehin anstehende Ende der Welt beschleunigen. Man darf allerdings annehmen, dass das Weltuntergangsszenario der Sentenz auch im sechzehnten Jahrhundert hauptsächlich als denkbar drastische rhetorische Bekräftigung des moralphilosophischen Gedankens verstanden wurde, dass das Gerechte unbedingt getan werden müsse, ohne Furcht vor unerfreulichen Handlungsfolgen.
Seit dem zwanzigsten Jahrhundert ist es technisch möglich, dass eine einzelne menschliche Handlung ohne Zwischenschaltung göttlichen Zorns das Ende der Welt herbeiführt, in der Menschen leben können. Am Abend des 28. März 2022 wurde der Satz vom absoluten Vorrang der Gerechtigkeit vor der Fortexistenz der Welt am Arbeitsplatz eines der mächtigsten Menschen der Erde in den Raum gestellt.
Was die Welt jetzt tun müsse
Mariana Sadovska, eine Sängerin und Komponistin aus der Ukraine, die 1972 in Lemberg geboren wurde und seit 2002 in Köln lebt, trug die Devise als Zitat vor, aber nicht als Zitat eines Kaisers oder eines anderen Aspiranten auf die Weltherrschaft. Sie hatte nach einem Solidaritätskonzert ein Paket von einer deutschen Familie erhalten, in dem sich Nachtsichtgeräte befanden, Tarnkleidung und ein Brief. Kulturstaatsministerin Claudia Roth hatte zu einer Lesung von Schriftstellern in der Reihe „Kultur im Kanzleramt“ eingeladen. Sadovskas Auftritt wurde kurzfristig zusätzlich ins Programm genommen; sie sollte ein Gedicht aus ihrer Heimat rezitieren und vorher etwas dazu sagen. Statt über das Gedicht redete sie über den Krieg. Mit den Worten der Solidarität aus dem Brief der deutschen Spender, die in Berlin namenlos blieben, sprach Sadovska vor Bundeskanzler Olaf Scholz ihre Überzeugung von dem aus, was die Welt jetzt tun müsse, um ihrem Land zu helfen.
Der NATO warf sie vor, sich allein von der Furcht vor atomarer Vergeltung davon abhalten zu lassen, eine Flugverbotszone einzurichten. Die Befürchtungen beschrieb sie nicht etwa als unbegründet; im Gegenteil, sie teilt sie mit den Verfassern des Briefes: „Natürlich haben wir große Angst, dass dadurch alles eskaliert und es zu einem Atomkrieg kommt und die ganze Welt untergeht.“ Damit war die Abwägung jedoch nicht beendet. „Aber wir können doch nicht so einen Verbrecher wie Putin davonkommen lassen, nur weil er mit der Atombombe droht.“ Die an dieser Stelle solcher Gedankenspiele typischerweise folgenden Erwägungen, ob der russische Präsident vielleicht bluffe, fielen fort, da sie von der Klarheit des ethischen Schlusses, den Sadovska uns nahelegte, nur abgelenkt hätten.
Erpressung ist das nicht
„Wenn die Welt untergeht, weil wir der Ukraine helfen“, sagte sie von dem Rednerpult aus, an dem wenige Minuten zuvor der Hausherr gesprochen hatte, „dann soll es halt so sein!“ Durch das Publikum, das sich in Corona-Abständen auf den Stufen des prächtigen Treppenhauses verteilt hatte, fuhr ein Schreck, weil Sadovska mit diesem letzten Wort des Ausschnitts aus dem Brief ihrer neuen Freunde ungerührt aussprach, worauf ihr Appell hinauslief.
Wir lassen uns von Putin erpressen: Das war ihre Anklage an uns. Die Angst ist begründet, aber es ist unwürdig, dass wir uns durch sie bestimmen lassen und uns zum Opfer machen. Wenn Botschafter der Ukraine, der offizielle oder auch inoffizielle, jetzt mit allen Mitteln rhetorischer Zuspitzung verlangen, Deutschland solle noch mehr tun, empfinden das viele Deutsche als moralische Erpressung. Sadovskas Rede lässt sich so nicht klassifizieren. Erpressung ist rechtswidrige Drohung mit einem empfindlichen Übel. Niemandem geschieht ein Unrecht, wenn ihm die Maxime des eigenen Handelns vorgelegt wird und die Frage, ob er ihr wirklich folgen möchte.
Mariana Sadovska erhielt im Kanzleramt keine Antwort. Das wäre auch unpassend gewesen, es sei denn, dass ihr jemand hätte zustimmen wollen. Wir werden bis auf Weiteres damit leben müssen, dass Sadovska und ihre Landsleute uns ins Gewissen reden. Und wir müssen ertragen, dass sie mit keinem Wort an unser Mitleid appellierte. sondern Forderungen der Gerechtigkeit aufstellte, also in unserem eigenen Interesse sprach.