Ukraine-Krise : Lesen Sie Putins Stellenbeschreibung
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Ein bedrängter Bär: Wladimir Putin vor einigen Tagen in Moskau Bild: AP
Vor der Höhle des russischen Bären ist ein Sicherheitsabstand einzuhalten, sonst greift er an. Dennoch braucht Europa Russland – und die Ukraine eine Finnlandisierung.
Wenn man die okzidentale Kultur als einen Organismus betrachtet, der sich von Russland im Osten bis nach Amerika im Westen erstreckt, so kommt darin Amerika die Rolle des Kopfes zu, Europa die des formenreichen Körpers und Russland die der tragenden Füße. Der Alte Kontinent bleibt Brutstätte und Paradiesgarten künstlerischer Ideen, auch wenn manche meinen, er durchlebe seine Wechseljahre.
Der transatlantische Verbündete sieht die Welt von oben, als Stratege, Datenverarbeiter, Superrechner und Rekordvielfraß, dessen Einwohner so viel konsumieren, dass, wenn alle Menschen es täten, sie die Ressourcen von mehr als vier Erdkugeln benötigten. In Russland lebt man wie an einem Tiefpunkt unter einem Maximum an Leidensdruck und grobmotorischer Belastung bei einem Minimum an Transparenz. Der russisch-amerikanische Künstler Ilja Kabakow empfindet das sogar physisch. Als er das erste Mal von Moskau nach Berlin reiste und später von dort nach New York, kam es ihm jeweils so vor, als bewege er sich senkrecht nach oben. Tatsächlich stehe die historische Erfahrung über Europa wie eine auratische Luftsäule, in der sich alles bricht und spiegelt, findet Kabakow, während die kulturelle Atmosphäre in Amerika alpin dünn sei. In Russland hingegen sei er sich immer vorgekommen wie ein Tiefseetaucher in einem lebensbedrohlichen Element.
Auch die Menschenschwärme folgen der Strömung von Ost nach West, fort aus der osteuropäischen Ebene, die der amerikanische Historiker Timothy Snyder „Bloodlands“ nennt, weil dort schon die Tataren durchtrampelten, die Moskau das Regieren lehrten, später Napoleon und Hitler, und weil Europa dort besonders viel Gewalt ausübte und erlitt. Russland ist ein in seiner Entwicklungsfähigkeit benachteiligtes, chronisch überanstrengtes Land, dem aber gerade deshalb die europäische Kultur grandiose Kunstleistungen verdankt.
Der vorrückende Wald von Birnam
Von den Romanen der russischen Klassiker über Lyrik von Anna Achmatowa, Marina Zwetajewa oder Musik von Dmitri Schostakowitsch bis zur Poesie von Alina Wituchnowskaja - hier werden Menschheitserfahrungen, die über das Menschliche hinauszugehen scheinen, zu Gold gesponnen. Es ist paradox: Gerade darin, dass einem hier so wenig erspart bleibt, liegt Russlands wahrer, nämlich kultureller Reichtum.
Die neue EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini hat jüngst gesagt, Russland sei für Europa kein strategischer Partner mehr. Wollte man das ernst nehmen, wäre das für den Kontinent katastrophal. Schon weil er sich so von einem Raum mit schwerem Gelände amputieren würde, der geostrategisches Denken schult und in dem die menschlichen Probleme von Macht und Werten, Ökonomie und Gemeinheit nackt und erbarmungslos auftreten wie die Wahrheit selbst. Ohne die russische Erfahrung würde die europäische Kultur vollends wattig und kastriert.
Wer Putin verstehen will, der sollte daher nicht Psychologie studieren, sondern die Stellenbeschreibung des russischen Präsidenten. Ein überdehntes, untervölkertes, rauhes Land zusammenhalten, das an ungemütliche Nachbarn wie China und die islamische Welt grenzt, steht da geschrieben. Der Weltmarkt hungert nach russischen Rohstoffen, das fördert die Korruption, Spitzenkader und ökonomische Eliten emigrieren. Und im entwickelteren Westen, wo Gorbatschow durch den Abzug der sowjetischen Truppen Freundschaft stiften wollte, hat die Nato das gesamte, ebenfalls von Gorbatschow freigegebene Glacis besetzt, ihr Militär rückt immer dichter an die Landesgrenzen. Wie sollte da ein russisches Staatsoberhaupt den Gorbatschow-Jelzin-Kurs nicht bitter bereuen und deshalb versuchen, den unfreundlich immer weiter vorrückenden „Wald von Birnam“ endlich zu stoppen?