Das Opfer hat keine Mitschuld an Kriegsverbrechen
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Wie kommt man heraus aus solch einem Krieg, ohne den Schutz von Unschuldigen und die Frage von Recht und Unrecht aus dem Auge zu verlieren? Zerstörtes Wohnhaus in Saltivka, einem Stadtteil von Charkiw Bild: dpa
Wann entsteht eine moralische Pflicht zum Kriegsaustritt? Reinhard Merkel beurteilt die Lage der Ukraine falsch. Ein Gastbeitrag.
Am 28. Dezember 2022 schrieb Reinhard Merkel im Feuilleton der F.A.Z., die Regierung in Kiew sei in der Pflicht, „Verhandlungen ex bello zu akzeptieren und deren konzessionslose Ablehnung zu beenden“. Sein Argument stützt sich auf einen Teil der Theorie des gerechten Krieges, das ius ex bello, an dessen Ausarbeitung ich maßgeblich beteiligt war. In meinen Augen geht es um zwei Kernfragen. Erstens: Ist es zulässig, einen Krieg fortzusetzen? Zweitens: Falls er beendet werden muss, wie sollte dies, in moralischer Hinsicht, geschehen? Merkels Antwort auf die erste Frage scheint zu sein, dass die Ukraine die Verantwortung habe, sich auf Verhandlungen mit Zugeständnissen einzulassen, um ein Ende des Krieges zu bewirken. Ich halte dieses moralische Urteil für grundfalsch und lehne auch dessen politische Implikationen ab.
Merkel hat mit vielem recht, etwa mit seiner Unterscheidung zwischen dem völkerrechtlichen Anspruch der Ukraine auf Selbstverteidigung und der moralischen Frage, ob die Ukraine den Krieg fortführen sollte, um ihre Souveränität zu verteidigen. Zudem zieht er die Ungerechtigkeit der russischen Invasion nicht in Zweifel. Merkel zufolge ist das ius ex bello gerade dann besonders bedeutsam, wenn eine gerechte Sache nicht oder zumindest nicht innerhalb der Grenzen der Moral verwirklicht werden kann. Das macht das ius ex bello zu einer bedrückenden Doktrin; was sie rät, ist schwer zu akzeptieren, vor allem wenn ein gerechter Grund, weiterzukämpfen, bestehen bleibt. Allerdings liefert Merkel kein überzeugendes Argument dafür, dass die Ukraine, die unter den Kriegsverbrechen eines anderen Landes, das nach Kolonialherrschaft trachtet, leidet, um des Friedens willen Zugeständnisse machen sollte. Gute Gründe sprechen vielmehr für die Annahme, dass ein solches Argument unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht triftig ist.
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