Wie sich Russlands Nachbarn fühlen : „Wir wissen nicht, wo die russischen Panzer anhalten“
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Ganz abgesehen davon wird das Leben in der Nachbarschaft von Putins Russland generell als ein Leben in der Nähe eines brodelnden Vulkans empfunden, der ohne Vorwarnung ausbrechen könnte. Auch wenn es scheint, dass ein militärischer Konflikt rational nicht zu erwarten ist, kann wohl niemand sicher sein, dass das, was die Europäer als Mindeststandards der Rationalität ansehen, auch im Kreml gilt. Ein enger Freund von mir hat mir kürzlich gestanden, dass der immer wiederkehrende Alptraum, den er in seiner Jugend in den achtziger Jahren hatte, plötzlich wieder aufgetaucht ist. In diesem Traum verkündet das Radio während des Familienfrühstücks den Beginn des Krieges, und durch das Küchenfenster sind Bombenexplosionen zu sehen. Die Familie eilt zum Luftschutzkeller und fragt sich, ob dort genügend Platz sein wird.
Die Sowjetarmee ist im August 1993 für immer verschwunden und wird hier nicht vermisst. Aber die Ängste, Erinnerungen und Alpträume bleiben und halten die Nation wach und aufmerksam.
Jonas Dagys ist Direktor des Philosophischen Instituts an der Universität Vilnius und leitet das Journal „Problemos“. Aus dem Englischen von Harald Staun.
Sofi Oksanen, Finnland
Der Begriff Interessensphäre ist an die Verhandlungstische der Politik zurückgekehrt, zusammen mit dem berüchtigten F-Wort. Für einen Augenblick hatte es den Anschein, beide wären schon von Naphthalin bedeckt, wie es auch sein sollte. Die westliche Welt hatte begonnen, ihre kolonialistische Vergangenheit aufzuarbeiten, und brüstete sich nicht mehr mit der Ausplünderung ehemaliger Kolonien.
In Putins Russland war es anders. Die Praktiken der Sowjetdiktatur wurden wieder zum Ideal, Stalin wurde rehabilitiert. Kein Wunder, dass der Führer Russlands sich jetzt nach etwas umsieht, das er mit seinem Namen verbinden kann und an das künftige Generationen sich so gut erinnern werden wie wir an das geheime Protokoll des Molotow-Ribbentrop-Pakts. Das billigte der Sowjetunion Kolonien zu und den Missbrauch meiner beiden Heimatländer: Finnland wurde mit Krieg überzogen und finnlandisierte sich, Estland wurde besetzt. Das Denken in Interessensphären hat aber nicht nur mit Putins Wunsch zu tun, etwas zu hinterlassen, um dessentwegen man ihn später zumindest als Stalin ebenbürtig betrachten wird.
Russland führt schon einen psychologischen Krieg gegen den Westen, und da liegt es nahe, die Interessensphären und die Finnlandisierung aus ihren Gräbern hervorzuholen. Da wir damit Erfahrung haben, wirkt der mehrfache Händedruck hinter unserem Rücken zumindest suspekt. Denn die Zersetzung der europäischen Einigkeit ist Russlands Ziel.
Russland ist unterwegs in die Vergangenheit, weil es von einem Dieb geführt wird, der nur ein einziges Mittel hat, um ungestraft das Eigentum seines Volks zu rauben – die Diktatur. Dass Stalin in Russland gegenwärtig den Status eines Superstars innehat, passt dazu.
Indem Putin Stalins Methoden und Taten legitimiert, erlaubt er sie sich selbst. Bei diesem Projekt spielt die Geschichte eine wesentliche Rolle: Die Verbrechen der Sowjetunion wurden geheiligt durch die Änderung der russischen Verfassung, und nun ist es bei unserem östlichen Nachbarn kriminell, diese Verbrechen zur Sprache zu bringen. In das Gesamtbild fügt sich gut die Lüge ein, dass Finnland und Estland „historisch zu Russland gehören“. Faktisch flatterte die russische Fahne über Finnland nur einen Augenblick im Vergleich zu der Zeit, die es unter schwedischer Herrschaft stand. Estland wurde 700 Jahre lang von den Deutschen beherrscht.