Überkapazitäten im Staatswesen : Ineffizienz kann sehr effizient sein
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Hat jeder Platz? Auch bei Kitas sollte nicht auf Kante genäht werden. Bild: dpa
Wenn staatliche Verwaltungen an ihre Grenzen kommen, ist Kritik schnell bei der Hand. Aber Überkapazitäten werden genauso angeprangert. Dabei gilt: Ein gewisser Leerlauf ist sinnvoll – und im Krisenfall ein notwendiger Puffer. Ein Gastbeitrag.
Leerlauf hat einen schlechten Ruf. Wer sein Auto im Leerlauf vor der Garage stehen lässt, ist schnell als Umweltsünder gebrandmarkt, und mittlerweile wird der Leerlauf meist durch Abschaltautomatik technisch weggekürzt. Auch im übertragenen Sinn, bei Anwendung im sozialen Leben, ist „Leerlauf“ etwas, das nah ist an Langeweile, Sinnkrise, Depression. Man darf sich aber nicht täuschen: Das gilt nicht für alle Dinge im Leben.
Insbesondere gilt es nicht für den Staat. Staatliche Einrichtungen brauchen ein gewisses Maß an Leerlauf, an Überkapazitäten, an überschüssigen Ressourcen, und wenn sie dies nicht haben, operieren sie hart an der Grenze zu einem Zustand, der dann von Kritikern schnell als „Versagen“ und „Kaputtsparen des Staates“ angeprangert wird. Das kann man aus Fällen wie der Kölner Silvesternacht und dem Berliner Lageso lernen. „Die Polizei hat versagt“ (Köln), „die Stadtverwaltung hat versagt“ (Berlin): Es braucht nur einige wenige Fälle überforderter Staatseinrichtungen in besonderen Lagen – und plötzlich werden wieder mehr Polizisten gefordert, werden Aufstockungen im Staatsapparat für nötig gehalten, nachdem ansonsten jahrelang nur Rufe nach Kürzungen und der Null im Staatshaushalt zu vernehmen waren.
Anzapfbare Überkapazitäten sind sinnvoll
Auffällig ist die Schnelligkeit, mit der die öffentliche Meinung von der einen auf die andere Seite wechselt – von „der Staat ist zu groß, zu teuer, zu träge, zu behäbig, zu ineffizient“ zu „der Staat wurde kaputtgespart“. Dies nur deshalb, weil der Staat am Fall von außergewöhnlichen Bedarfslagen im Zusammenhang mit dem Flüchtlingszustrom – ja, nicht: versagt hat, sondern demonstriert hat, dass ein gewisses Maß an Leerlauf und damit an anzapfbaren Überkapazitäten seinen guten Sinn hat und dass umgekehrt ein Runterfahren auf das Minimum riskant ist.
Die Auflösung dieses Widerspruchs liegt in der Anerkennung des Sinns von Leerlauf oder, mit dem englischen Fachbegriff, von „slack“. „Slack“ ist jede Art von Ressourcenüberschuss relativ zu dem, was unerlässlich ist oder „effizient“ wäre. Es kann sich dabei um einen Überschuss an Geld und Geldverausgabungsbereitschaft handeln, etwa wenn ein Unternehmen seinen Mitarbeitern höhere Löhne zahlt als im Tarifvertrag fixiert oder seinen Aktionären höhere Dividenden als durch den Kapitalmarkt erzwungen.
Überforderung bei besonderen Bedarfslagen vorbeugen
Es kann sich auch um einen Überschuss an Personal, an Material, an Maschinenkapazitäten handeln: um stillstehende Anlagen und unterbeschäftigtes Personal. Der Nutzen von „slack“ liegt nach Erkenntnissen der Organisationstheorie unter anderem darin, dass für Krisenfälle Puffer vorhanden sind, die dann angezapft werden können.
Wenn das schon für Unternehmen der Privatwirtschaft gilt, so gilt es erst recht für den Staat. Der Staat besteht gewissermaßen in vielen seiner Kernfunktionen aus „slack“. Die Polizei zum Beispiel als Verwalterin des staatlichen Gewaltmonopols ist im Kern ihrer Existenz nichts anderes als ein großer Haufen „slack“ – das Vorhalten von Gewaltkapazität, die tatsächlich in den allermeisten Fällen nicht eingesetzt wird. Noch mehr gilt dies für unmittelbaren Gewalteinsatz, das heißt Waffengebrauch. Der durchschnittliche deutsche Polizist feuert in seinem Dienstleben seine Waffe weniger als einmal auf einen Menschen ab – sind dann nicht alle Ausgaben für Dienstwaffen und Schießtraining verschwendet und hätten eingespart werden können?