Pläne für mehr Organspenden : Mit Freiwilligkeit hat das nicht mehr viel zu tun
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Spenden können Leben retten – aber was heißt der Vorstoß von Jens Spahn für die Freiwilligkeit? Bild: dpa
Jens Spahn macht mit seinem Vorstoß zur Organspende den gerade erst vorgelegten Gesetzentwurf des Gesundheitsministeriums zur Makulatur. Was heißt das für die Zukunft freier Entscheidungen?
Am Freitag hat das Bundesgesundheitsministerium auf seiner Homepage einen 45 Seiten langen Referentenentwurf für ein Gesetz veröffentlicht, dessen erklärtes Ziel es ist, die Zahl der Organspenden in Deutschland durch effizientere Strukturen und finanzielle Anreize für die Entnahme-Kliniken zu erhöhen: „So sorgen wir dafür, dass mehr Leben durch eine Organspende gerettet werden können.“ Kaum war der Gesetzentwurf, der umsetzt, was im Koalitionsvertrag verabredet wurde, publiziert, bezog der zuständige Minister Jens Spahn eine abweichende Stellung: In einem Interview mit der „Bild“-Zeitung gab er seine Ansicht kund, dass es angesichts der viel zu geringen Zahl von Organspendern an der Zeit sei, das System zu verändern. Statt der bisherigen sogenannten Einwilligungslösung will Spahn eine Widerspruchslösung.
Auf Twitter legte der Minister gestern früh nach: „Wie können wir die Zahl der Spender substantiell erhöhen und damit Leben retten? Dafür brauchen wir eine breite Debatte im Parlament, in unserer Gesellschaft und in unseren Familien.“ Das klingt nicht, als ob Spahn dem Gesetzentwurf, den sein Haus vorgelegt hat, besonders vertraute. Ein Sprecher des Ministeriums erläutert auf Anfrage dieser Zeitung: „Man muss trennen zwischen dem Organspendegesetz, das wir als Ministerium einbringen, und der Widerspruchslösung, bei der Spahn die Debatte organisieren will.“ Warum aber wird ein Gesetzentwurf ins Kabinett eingebracht, wenn der federführende Minister gleichzeitig eine weitaus grundsätzlicher angelegte Debatte führen und sogar höchstpersönlich organisieren will? Desavouiert das nicht seine eigene Organisation, die Fachbeamtenschaft ebenso wie das Kabinett, das sich nun mit einem mutmaßlich zur Vorläufigkeit verdammten Entwurf befassen soll?
Skandale ruinierten das System
Und wenn diskutiert werden soll, wie die Spenderzahlen erhöht werden können – warum wird dann nicht erst einmal untersucht, wieso die Bereitschaft, sich Organe entnehmen zu lassen, in den letzten Jahren trotz erheblicher Anstrengungen des Gesetzgebers nicht gestiegen, sondern gesunken ist? 1998, als die Deutschen Stiftung Organspende (DSO) ihre Arbeit noch nicht aufgenommen hatte, wurden 1111 postmortale Organspender gezählt, 2007 wurde ein Höchststand von mehr als 1300 Spendern erreicht, für 2010 verzeichnet der Jahresbericht der DSO noch 1296 Spender, der neueste Bericht der DSO von 2017 weist aus, dass 797 Menschen nach dem festgestellten Hirntod Organe entnommen worden sind: „eine ernüchternde Bilanz und eine Tragödie“, wie der Vorstand der DSO feststellt, um dann aber auf die Frage nach den Gründen ins Ungefähre auszuweichen: „vielschichtig und in ihrer Komplexität nicht mit einer Einzelmaßnahme zu beheben“.
Alles spricht dafür, dass ein wichtiger Grund für die gesunkene Bereitschaft, sich Organe entnehmen zu lassen, der Göttinger Transplantationsskandal ist: Manipulationen von Patientendaten und wahrheitswidrige Angaben zu angeblich durchgeführten Dialysebehandlungen sowie andere Verstöße gegen die Richtlinie zur Lebertransplantation sollten einzelne Patienten noch kränker erscheinen lassen und damit bewirken, dass ihnen schneller eine Leber zugewiesen wurde. Auch in anderen Transplantationszentren wurden in der Folge die Usancen der Wartelistenführung überprüft und ebenfalls, allerdings weniger gravierende, Unregelmäßigkeiten festgestellt. Der Skandal hatte offenkundig gemacht, dass ein unabhängiges, effektives Kontrollsystem für die Transplantationsmedizin fehlt. Daraufhin wurde immerhin eine neue Regelung geschaffen, die Wartelistenmanipulationen unter Strafe stellt. Die Richtlinien für die Warteliste und Vergabekriterien, die von der Bundesärztekammer verabschiedet werden, müssen jetzt auch vom Bundesgesundheitsministerium genehmigt werden.
Ein System effektiven Rechtsschutzes für Patienten, die sich bei der Organvergabe benachteiligt sehen oder gar Regressansprüche anmelden wollen, gibt es aber nach wie vor nicht. Das Transplantationsgesetz schreibt nicht einmal vor, auf welchem Rechtsweg Patienten zum Beispiel gegen die Entscheidung vorgehen können, nicht auf die Warteliste zu kommen und damit noch nicht einmal die Chance auf ein Organ zu erhalten.
Es gibt auch weitere kritische Punkte im System: Der Hirntod, dessen Feststellung die Entnahme von Organen ermöglicht, wird von vielen Menschen und vor allem typischerweise auch von Angehörigen nicht als Zeitpunkt eines bereits eingetretenen Todes erlebt, sondern als ein Abschnitt im Sterbeprozess, der durch eine Organentnahme in diesem Verständnis massiv beeinflusst wird. Auch dass vielen Menschen unklar ist, welche konkreten Auswirkungen es für die Behandlung am Lebensende haben kann, wenn sie sich bereit erklären, Organe zu spenden, und deswegen bis zuletzt mit organerhaltenden Maßnahmen behandelt werden müssen, die in der Regel durch eine Patientenverfügung gerade abgelehnt werden, wirkt für potentielle Spender nicht motivierend.
Hier wird deutlich, welche rechtlichen Schwierigkeiten die jetzt in die Diskussion gebrachte doppelte Widerspruchslösung mit sich bringen kann: Wenn jeder zum Organspender werden kann, der dem nicht ausdrücklich und in auffindbarer Weise schriftlich widersprochen hat, wird die Versuchung für die Entnahmekliniken groß sein, die Organe bis zum Entnahmezeitpunkt optimal zu erhalten – und damit medizinische Behandlungen auch vor Eintritt des Hirntodes vorzunehmen, die nicht dem Patienten selbst dienen, sondern nur den potentiellen Empfängern seiner Organe. Zu Lebzeiten dürfen aber nur medizinische Behandlungen vorgenommen werden, die durch den Willen oder den mutmaßlichen Willen des Patienten oder durch dessen Wohl gedeckt sind – das wäre bei einem freiwilligen Organspender durchaus der Fall. Bei einem Menschen, der seine Bereitschaft, sich nach dem Tod Organe entnehmen zu lassen, gerade nicht erklärt hat, kann ein entsprechender mutmaßlicher oder natürlicher Wille dagegen gerade nicht angenommen werden.
Wenn Angehörige nicht gefragt werden können
Schon heute ist das Transplantationsgesetz darauf angelegt, die Bereitschaft zur Organspende zu fördern. Für eine Spende, die ja eine freiwillige, fremdnützige Gabe sein soll, ist das schon ein weitreichendes Ziel – das kann mit guten Gründen durch die Notsituation der Patienten, die dringend ein Organ benötigen, weil sie sonst sterben werden, als gerechtfertigt angesehen werden. Und doch sollte man sich klar darüber werden, dass in anderen Fällen, in denen auch Leben gerettet werden könnten, ein ähnliches Engagement des Staates und des Gesundheitssystems für die Bedrohten nicht vorgesehen ist.
Die Frage ist aber, ob noch mehr erwartet werden kann. Die bislang noch nicht in einen Gesetzeswortlaut gepresste Überlegung von Jens Spahn bedeutet keinen „Zwang zur Organspende“, wie es bisweilen plakativ formuliert wird. Der Einzelne selbst und seine Angehörigen sollen es in der Hand behalten, nein zu sagen. Allerdings soll die Organspende, so formuliert es Spahn selbst, „zum Normalfall“ werden. Nein zu sagen würde schwierig werden. Und wenn Angehörige, die nein sagen könnten, so schnell nicht gefragt werden können, wie die Organe benötigt werden, dürfte der Normalfall exerziert werden. Mit Freiwilligkeit hat das nicht mehr viel zu tun. Und ob das eine gute Werbung für das System der Transplantationsmedizin wäre, ist offen.
Das beschäftigt auch den CDU-Abgeordneten Michael Brand, den menschenrechtspolitischen Sprecher seiner Fraktion, der selbst einen Organspendeausweis hat, aber auch Zweifel an einem vorschnellen Systemwechsel: „Dass es mit der Widerspruchslösung, wie sie Jens Spahn vorschwebt, automatisch mehr Organspenden gibt, ist überhaupt nicht ausgemacht, auch der Schutz der Selbstbestimmung ist zentral“, gibt der Fuldaer CDU-Abgeordnete im Gespräch mit dieser Zeitung zu bedenken. Vor allem könne man nicht eine „ja notwendige breite Diskussion“ initiieren und das Ergebnis, das dabei herauskommen soll, schon vorgeben.
Zu den Themen, die der Diskussion tatsächlich bedürfen, gehört die rechtliche Lage des hirntoten, aber weiter medizinisch behandelten Menschen ebenso wie die Frage nach der immer wieder geforderten Ausweitung von Lebendspenden, das Problem der Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen durch manche der Richtlinienkriterien sowie der Rechtsschutz von Patienten gegen Wartelisten-Entscheidungen der Transplantationszentren oder Zuteilungsentscheidungen von Euro-Transplant.
Auch der Referentenentwurf aus dem Spahn-Ministerium gibt Anlass zu Fragen: Dass dem Transplantationsbeauftragten tatsächlich in jedem Fall „alle erforderlichen Informationen zur Auswertung des Spenderpotentials, der Spendererkennung und der Spendermeldung zur Verfügung gestellt werden“, dürfte angesichts des informationellen Rechts auf Selbstbestimmung auch des sterbenden Patienten so pauschal und ohne Einwilligung von Seiten des Patienten oder seiner gesetzlichen Vertreter nicht möglich sein.