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Türkei : Fürchte dein Volk wie deinen Gott

Demonstrantin in Istanbul: Steine wirft nur eine Minderheit Bild: AFP

Eine neue, überraschende Allianz zeichnet sich ab bei den Unruhen von Istanbul: Religiöse und Säkulare stehen zusammen. Erdogan fürchtet schon um seine Wähler.

          6 Min.

          In der Straße, die an Erdogans Istanbuler Regierungsbüro vorbeiführt, haben sich die Bürgersteige in Luft aufgelöst. In der Nacht haben Polizisten alle Pflastersteine aus dem Boden gerissen, so dass dort, wo Bürgersteige waren, nur noch blanke Erde ist. Die Demonstranten sollen keine Wurfgeschosse mehr haben, um sich gegen die Reizgasattacken der Polizei zu verteidigen. Die Istanbuler, die das nächtliche Arbeiten nicht beobachtet haben, können das natürlich nicht wissen. Sie denken, die Demonstranten hätten die Bürgersteige zerstört, und schimpfen laut auf sie, als sie morgens in Sandalen und blank geputzten Schuhen über die lose Erde zur Arbeit gehen.

          Karen Krüger
          Redakteurin im Feuilleton.

          Der Regierung kommt das nicht ungelegen. Erdogan tut schließlich noch immer so, als handelte es sich bei den Leuten im Gezi-Park um durchgedrehte Vollidioten, auf deren Verhalten man nur mit brutalster Polizeigewalt antworten kann. Kurzer Abgleich mit der Wirklichkeit: Es gibt inzwischen drei tote Demonstranten; ein Polizist starb, nachdem er bei einem Einsatz von einer Brücke gefallen war. Inzwischen protestierte die Organisation Reporter ohne Grenzen gegen das brutale Vorgehen der türkischen Polizei gegen Journalisten, die über die Proteste auf dem Taksim-Platz berichten; vierzehn Journalisten seien verletzt worden, mehrere von ihnen schwer.

          Punkt neun Uhr: ein wahres Konzert

          Doch Steine wirft unter den Demonstranten nur eine Minderheit - wie überall, wo es Proteste gibt, finden sich auch in Istanbul Krawallmacher. Damit der friedliche Protest durch sie nicht aus den Fugen gerät, haben die Aktivisten rund um den Taksim-Platz Zettel mit Verhaltensregeln an die Häuserwände geklebt: Wir harren im Gezi-Park aus. Wir machen nichts kaputt. Wir lassen nicht zu, dass unser Protest von einer politischen Partei besetzt wird. Wir gehen vorsichtig um mit Gerüchten, glauben nicht alles, was man sich erzählt, und stimmen Twitter-Aktionen miteinander ab. Wir bemühen uns darum, die in- und ausländische Presse über alle Ereignisse zu informieren.

          Auch jene Bewohner der Stadt, die nicht in den Gezi-Park gehen oder die sozialen Medien mit Informationen füttern, haben Mittel gefunden, um sich zur Wehr zu setzen. Aus dem lautstarken Zusammenschlagen von Töpfen und Pfannen an Fenstern und auf Balkonen, das aus der Verzweiflung der Beobachter während der Straßenkämpfe der ersten Tage entstanden war, ist inzwischen eine richtige Institution geworden. Es ist ein wahres Konzert, das jeden Abend um Punkt neun Uhr anhebt, und selbst der berühmte Pianist Fazil Say, dem von der Regierung Erdogan wegen lächerlicher Twitter-Botschaften äußerst übel mitgespielt worden ist, hält sich schon an diesen Stundenplan der Protestmusik: Als er in dieser Woche ein Klavierkonzert in Izmir gab, unterbrach er pünktlich um neun Uhr seine Darbietung, zog unter dem Flügel Geschirr hervor und machte mit ihm ein wenig Krach. Und so wunderte sich auch abends in einem kleinen Fischrestaurant nahe dem Taksim-Platz niemand darüber, als um Punkt neun Uhr die Leute ihre Raki-Gläser beiseite stellten, Messer und Gabel von gebratenem Fisch und Salat befreiten und damit auf ihre Teller einhämmerten.

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