Luther-Jubiläum in Jena : Im deutschen Emmaus
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Er hat uns immer noch im Auge: Martin Luther, wie ihn 2017 die Sonderbriefmarke zu 500 Jahren Reformation zeigte Bild: dpa
Essen und Trinken hielt schon die Reformation zusammen. Da wird das doch auch heute noch taugen: Jena betreibt zum Jubiläum von Luthers Besuch im Jahr 1522 neue Traditionspflege.
Martin Luther und Jena – das ist ein eigentümliches Verhältnis. Beim ersten nachgewiesenen Besuch des Reformators in der Stadt erkannte man ihn nicht. Doch posthum ist Luther nirgendwo so sichtbar wie in Jena, denn in der dortigen Stadtkirche St. Michael befindet sich seine Grabplatte mit einem zeitgenössischen lebensgroßen Abbild. Natürlich deckt sie nicht Luthers Grab, denn das liegt bekanntlich in Wittenberg. Aber die 1548 in Erfurt dafür angefertigte Bronzeplatte erreichte in den Nachwirren des Schmalkaldischen Kriegs ihren Bestimmungsort nicht, und so kam sie 1571 nach Jena, ins neue theologische Zentrum des lutherischen Protestantismus. Die erst kurz zuvor gegründete Universität sollte aus dem zuvor unscheinbaren Bauern- und Winzerort eines der bis heute wichtigsten Bildungszentren Deutschlands machen. Für den Neubau des Hauptgebäudes der Hochschule riss man Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts sogar das Stadtschloss ab.
Direkt gegenüber steht an diesem Donnerstagvormittag ein eingedeckter Tisch im Freien. Drei Korbsessel warten auf Gäste, entsprechend viele Bierseidel sind parat, und ein kleiner Weinkrug legt Zeugnis davon ab, dass nichts verloren geht in dieser Stadt: Es handelt sich laut Aufschrift um ein Andenken an die Mitgliederversammlung des Deutschen Forstvereins im Jahr 1937, abgehalten im fernen Freiburg im Breisgau. Schlechte Zeiten damals, wie heute wieder. Aber es geht bei diesem Tisch um ein viel älteres Ereignis, das vor allem auch hier an diesem Ort stattgefunden hat, wo auch Bismarck einmal vorbeikam und 1957 die Kegelgruppe Jena für Blinde und Sehbehindert gegründet wurde. Daran erinnern schwere Plaketten an der Hauswand einer Jenaer Institution, die seit mindestens 1498 ihren Sitz an diesem Ort hat: das Gasthaus „Schwarzer Bär“.
Überraschende Begegnung beim Essen
Darin suchte Luther bei seinem ersten Besuch am 3. März 1522 Obdach vor einem Wintergewitter, als er unterwegs vom Versteck auf der Wartburg an seine alte theologische Wirkungsstätte in Wittenberg war, wo während der langen Abwesenheit ihres Begründers die Reformation einigermaßen aus dem Ruder gelaufen war. Luthers eigener Doktorvater, Andreas Bodenstein alias Karlstadt, hatte die Lehren seines Schülers radikalisiert und damit die fürstliche Unterstützung für das neue Glaubensverständnis durch den sächsischen Kurfürsten Friedrich den Weisen gefährdet. Luther wollte Karlstadt in die Schranken weisen und riskierte dafür sein Leben, denn noch stand er unter Reichsacht. Also reiste er inkognito als Junker Jörg, denn der Name Luther war längst überall berühmt-berüchtigt.
Wie es der Zufall wollte, kreuzte sich sein Weg in Jena mit dem zweier junger Schweizer, die Anhänger der Reformation waren und Luther besuchen wollten, ihn aber nicht persönlich kannten. Einer von ihnen, Johannes Kessler, hat später aufgeschrieben, wie die Begegnung im „Schwarzen Bären“ mit jenem Junker Jörg ablief, in dem die beiden Schweizer erst einige Tage später Luther erkannt haben wollten, als sie ihn in Wittenberg wiedertrafen – nunmehr unter eigenem Namen wild von den Kanzeln gegen Karlstadt auf die Bürger einpredigend. Kesslers Bericht blieb als Manuskript im heimatlichen Sankt Gallen lange unbeachtet, doch im neunzehnten Jahrhundert wurde der Text gedruckt und von den Historikern als Luther-Lebenszeugnis begeistert rezipiert. Und auch Jena war’s zufrieden, hatte die Stadt doch jetzt die Rolle eines reformatorischen Emmaus erlangt, in dem zwei Jünger den verschollenen Erlöser nicht erkannten. Mit solchen Anekdoten ließ sich gut leben.
Ein Landesvater kämpft mit dem Lutherbrötchen
Daran hat sich nichts geändert, und so bot der fünfhundertste Jahrestag der Begegnung nun Anlass, in Jena eine neue Tradition begründen zu wollen. Auf dem Lutherplatz, wie die Freifläche vor dem „Schwarzen Bären“ mittlerweile heißt, haben sich um die hundert Menschen versammelt, um Luther noch einmal dabei zuzuschauen, wie er die zwei jungen Schweizer im Unklaren über seine Identität lässt, während alle drei munter tafeln (auf Luthers Kosten). Dargeboten wird die Szene von einigen Laienschauspielern des örtlichen Lutherhauses in holprigen Knittelversen, und zu Auftakt und Ende der Feierstunde spielt eine Bläserklasse des Ernst-Abbe-Gymnasiums „O When the Saints Go Marching In“. Das hätte sich Luther als nimmermüder Prediger wider den Heiligenkult gewiss nicht träumen lassen. Aber schön klingt es doch.