
Überwachung in Frankreich : Das Auge des Gesetzes sieht alles
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Ein Dorn im Auge des Staates: Biker beim „Wheels and Waves“-Treffen. Bild: Jörg Künstle
Einst waren die Boulevards von Paris ein Symbol der Freiheit. Doch damit ist Schluss, seit über tausend Videokameras die Straßen der Hauptstadt beobachten. Auch vor öffentlicher Bloßstellung schreckt der Staat nicht zurück.
Es ist noch gar nicht so lange her, da hielten die Pariser auf dem Boulevard St.-Germain in zweiter Reihe, kauften bei „L’ecume des pages“ ein Buch oder tranken einen Kaffee im „Flore“, und nachts parkten sie sogar auf dem Mittelstreifen; Paris war die Hauptstadt des improvisierten Verkehrs. Damit ist jetzt Schluss – denn der Boulevard St.-Germain steht unter Videoüberwachung, wie viele andere Boulevards der Stadt. Über eintausend Überwachungskameras wurden im Rahmen des „Plan de Vidéoprotection pour Paris“ installiert, alles wird aufgezeichnet und kann von der Polizei an Bildschirmen verfolgt werden, was mit dem Argument gesteigerter Sicherheit durchgesetzt wurde.
Und wo man schon einmal die Kameras hat, wurde jetzt die „Vidéoverbalisation“ erfunden: Wer in zweiter Reihe parkt oder über eine rote Ampel fährt, dessen Kennzeichen wird automatisch erfasst und ein Strafzettel zugestellt. So schafft sich der Staat mit einer Technik, die der Sicherheit der Bürger dienen soll, eine lukrative Einnahmequelle – was bezeichnend ist für eine neue Entwicklung im öffentlichen Raum: Denn oft, auch bei der Vernetzung von Autos, werden moralisch schwer zurückweisbare Sicherheitsargumente (Senkung der Zahl von Verkehrstoten) vorgeschoben, um die einmal installierte Technik im zweiten Schritt zu rein kommerziellen Zwecken zu nutzen.
Neuer Pariser Sicherheits-Panoptismus
Der öffentliche Boulevard, in der Literatur einst ein Raum der Freiheit und Selbstbestimmung, verliert angesichts der massiven Totalüberwachung und Kastration von Bürgerrechten seine alte Bedeutung; das Verhalten des Flaneurs wird fortan auf die Daueraufzeichnung seiner Handlungen abgestimmt sein. Auf französischen Autobahnen erscheinen währenddessen auf den Hinweistafeln, die errichtet wurden, um auf Staus und Gefahren hinzuweisen, auch die Nummernschilder von Autofahrern, die zu schnell unterwegs sind; für alle Verkehrsteilnehmer gut sichtbar steht dort zum Beispiel „A-XX 111: Trop Vite“. Diese Form der öffentlichen Beschämung und Ermahnung hat vor allem den Zweck, den Fahrer zu erschrecken und ihm mitzuteilen, dass jeder seiner Schritte gesehen wird und öffentlich gemacht werden kann.Das, was der passionierte Jaguar-Fahrer Michel Foucault einmal als „Panoptismus“ kritisiert hat, die Gewalt des alles sehenden, omnipräsenten Staats, ist auf Frankreichs Straßen Realität geworden, entsprechend eingeschüchtert rollt die ehemals Grande Nation in ihren eierpflaumenförmigen Großraumlimousinen dahin.
Ganz Frankreich? Nein! Die Gegenbewegung zum neuen Pariser Sicherheits-Panoptismus versammelte sich vor kurzem in Biarritz beim „Wheels and Waves“-Treffen, zu dem fünfzehntausend Surfer und Motorradfahrer auf matt lackierten, auf wüste Weise neu zusammengeschraubten, garantiert nicht TÜV-fähigen Naked Bikes auftauchten. Sie sind dem Staat natürlich ein Dorn im Überwachungsauge, zumal sie vorn kein Kennzeichen haben und nicht verfolgbar sind. Jetzt wird in Frankreich überlegt, ob man die Helme mit einer Art Barcode versieht, damit die Biker identifizierbar sind. Und wenn sie dann keine Helme tragen? Vielleicht gleich den Barcode auf die Stirn tätowieren, sicher ist sicher.
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