Theodor Heuss : Mein Bundespräsident
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Theodor Heuss an seinem 67. Geburtstag mit Enkelin und Ehefrau Elly Heuss-Knapp Bild: picture-alliance/ dpa
Schwäbische Kunde oder Erinnerung eines Kindes an schlechtere Tage, aber bessere Zeiten und einen fabelhaften Mann namens Theodor Heuss. Aus gegebenem Anlass.
Was wird es an diesem Septembertag zu essen gegeben haben? Wahrscheinlich Rädlesgemüse, wie so oft in dieser Jahreszeit. Das sind in dünne Scheiben geschnittene (gerädelte) Kartoffeln, gekocht in einer süßsauren, sehr essigbetonten Mehlsauce. Dazu wurden Saitenwürstchen gereicht, die in anderen Landstrichen Wiener oder Frankfurter Würstchen heißen. Die Eltern gönnten sich je ein Paar davon. Die vier Kinder teilten sich ein Paar. Jeder ein halbes Würstchen, scharf futterneidisch geteilt. Die Schule hatte nach den Sommerferien Anfang September wieder begonnen. Man bereitete sich schon auf die Aufnahmeprüfung ins Gymnasium (Diktat, Mathe, Aufsatz) vor. Jetzt, am 12. September 1959, durfte zu Tisch noch weniger gesprochen oder auch aufbegehrt oder gemeckert werden als sonst („Halt dei saudomma Gosch, du Rotzbua! I hau dr glei oins en dr Anka nei!“; wobei „Anka“ als erweiterter Wangen-, Gesichts- und überhaupt Kopfbereich zu übersetzen wäre).
Denn aus dem Nebenzimmer, dem Schlafgemach der Eltern, dröhnte eine Ansprache. Aus dem Radio. Dieses stand nicht im Wohnzimmer. Sondern auf dem Nachtkästchen des Vaters neben dessen Bett. Fernseher gab es keinen. Man ging, wenn man damals Fernsehen wollen durfte, was ungefähr einem Theater- oder Konzertbesuch gleichkam, gut angezogen (unbedingt mit Krawatte), mit einem Präsentblumenstrauß in Händen, zu Nachbarn, die, selten genug, ein solches Wundergerät besaßen, und guckte an festlichen Samstagabenden Komödien oder sonstwie Lustiges, wozu Goldfischli-Gebäck und Kroatzbeere oder Eckes-Edelkirsch gereicht wurde (Himbeersaft für die Kinder).
Auf einmal hatten diese Wörter wieder Klang
Aber ein Radio gab es. Nicht für alle. Nur für den Vater. Immerhin schon im knallweißen Nüchternheitsdesign der Firma Braun. Und aus diesem Schlafzimmerorakel tönte an diesem 12. September eine „Rede an das deutsche Volk“. Es war die Abschiedsrede des Bundespräsidenten. „Volk“ und „deutsch“ klang damals noch so unverdächtig wie abgenutzt. Wenn Lehrer, die meisten ins bigott Christliche hinein mutierte alte Nazis, solche Worte in den Mund nahmen, klang das irgendwie komisch. Wir Kinder hörten sie, aber glaubten sie nicht oder konnten uns nichts darunter vorstellen außer etwas seltsam Hohles, Ungefähres. So, als redeten sie von „Gott“ und wüssten nicht, von wem sie da eigentlich redeten. Und über die Lippen unserer Eltern kamen solche Worte sowieso nicht. Aber.
Aber jetzt auf einmal klangen „Volk“ und „deutsch“ und „Demokratie“ und „Herrschaft“ und „Bürger“ und „Verantwortung“ aus dem Radio im Elternschlafzimmer nicht als Hohlheiten, sondern als nüchtern schöne Konkretheiten, als könnte man sie fassen und genießen wie das Rädlesgemüse auf unseren Tellern, besser noch: wie die Saitenwürstchen. Nur dass es nicht halbe schienen, sondern schöne ganze.
Eine Unerhörtheit im Bundestag
Die Stimme des Herrn Bundespräsidenten, von dem wir wenig mehr wussten und erfuhren, als dass seine Unterschrift unsere Sieger- oder Ehrenurkunden zierte, die uns bei den alljährlichen sportiven Bundesjugendspielen im Erfolgsfall ausgehändigt wurden, die Stimme also des Staatsoberhauptes (auch so ein Wort, das wenig sagte) klang tief. Sie hatte sattes Volumen. Rudolf Augstein sprach später einmal von einem „orphischen Bass“. Und sie war gemütlich, ohne harmlos zu sein.