Regisseurin vor Gericht : Russische Säuberung
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In Haft: Die Regisseurin Jewgenja Berkowitsch am 5. Mai 2023 in Moskau. Bild: Imago/TASS
Theaterprozess in Russland: Der Regisseurin Schenja Berkowitsch wird wegen eines Antiterrorstücks Rechtfertigung von Terrorismus vorgeworfen
Am vergangenen Freitag wurde in Russland das erste Strafverfahren wegen „öffentlicher Rechtfertigung von Terrorismus“ auf einer Theaterbühne angestrengt. Angeklagt sind die 38 Jahre alte Theaterregisseurin, Lyrikerin und Feministin Schenja Berkowitsch sowie die Dramatikerin Swetlana Petrijtschuk. Ihr Stück „Lichter Falke Finist“, das vor zwei Jahren von der Theatertruppe „Soso-Töchter“ uraufgeführt wurde, erzählt anhand realer Geschichten, Interviews und Prozessakten von Frauen, die sich aufgrund von Online-Dates entschließen, Anhänger des radikalen Islams zu heiraten und von der Terrororganisation „Islamischer Staat“ rekrutiert wurden.
Im vergangenen Jahr erhielt die Produktion Russlands wichtigsten staatlichen Theaterpreis, die Goldene Maske, für Text und Kostüme. Nun drohen den Autorinnen für dasselbe Stück bis zu sieben Jahre Gefängnis. Der Fall wird, in Anlehnung an die Gerichtsverfahren der Stalinzeit, bereits als „Theaterprozess“ bezeichnet. Sollten Berkowitsch und Petrijtschuk verurteilt werden, wäre ein Straftatbestand etabliert, nach dem jeder Juror der Goldenen Maske, der für das Stück gestimmt hat, jeder Kritiker, der positiv darüber geschrieben hat, wegen „Rechtfertigung von Terrorismus“ verurteilt werden könnte.
Eine „Bedrohung für Russlands Sicherheit“
Anlass für das Strafverfahren war eine vor zwei Jahren verfasste Denunziation von Anhängern der ultranationalistischen „Nationalen Befreiungsbewegung“ (NOD), worin es hieß, das Stück von Berkowitsch stelle eine Bedrohung für die Sicherheit Russlands dar. Die Staatsanwaltschaft stützt sich allein auf ein Gutachten, das der Leiter des „Labors für Destruktologie“ an der Staatlichen Linguistischen Universität Moskau, der Historiker und Religionswissenschaftler Roman Silantjew, erstellte. Gemäß der von ihm begründeten „Destruktologischen Wissenschaft“ behauptet Silantjew, das Theaterstück enthalte „Anzeichen destruktiver Ideologien wie der des Islamischen Staates, des Dschihadismus sowie der Idee von permanenter, einschließlich revolutionärer Gewalt“. Außerdem fand er Anzeichen für eine radikal feministische Ideologie, die der männerzentrierten Ordnung in Russland widerspreche.
Zuschauer und Kritiker, die das Stück gesehen haben, bezeugen, dass es sich um ein entschieden antiterroristisches Werk handle, weil es den Irrtum der betrogenen Frauen und die Folgen ihres Tuns, wie Versklavung, Verlust der Kinder und im Fall der Flucht, ein Strafverfahren vergegenwärtige. Die Anklage ist gemäß einer Logik konstruiert, nach der man Erich Maria Remarque vorwerfen könnte, sein Buch „Im Westen nichts Neues“ rechtfertige den Militarismus. Der Anwalt von Petrijtschuk wies darauf hin, dass eine Aufzeichnung des Stückes in einer sibirischen Strafkolonie für Frauen gezeigt wurde, wo deren stellvertretende Leiterin erklärt habe, es habe einen starken Eindruck auf die Gefangenen gemacht.
Berkowitsch hat viel Resonanz
Freilich geht es wohl weniger um das Stück, dass seit dem letzten Herbst nicht mehr gespielt wird, sondern um Berkowitsch, die nach Beginn der russischen Invasion in die Ukraine wegen einer Protestaktion gegen den Krieg verhaftet wurde und elf Tage Haft absaß. Als Lyrikerin, die in Gedichten, in Interviews und Facebook-Posts den Krieg verurteilt, hatte sie viel Resonanz. Dass sie zwei adoptierte Halbwüchsige erzieht, war dem Gericht egal. Vor dem Gerichtsgebäude versammelten sich mehr als hundert Menschen, um sich mit den Angeklagten zu solidarisieren. Selbst regimetreue dekorierte Schauspieler sowie Sprecher der Theatergewerkschaft setzten sich für die Angeklagte ein. Ein von der Onlinezeitung „Nowaja gaseta“ veröffentlichter offener Brief zur Unterstützung von Berkowitsch und Petrijtschuk wurde am Tag der Veröffentlichung von mehr als fünftausend Menschen unterzeichnet. All dies kann die eskalierende Dynamik der Repression, die täglich neue Opfer produziert, nicht stoppen.
Erst vergangenen Samstag ließen die Behörden in Sankt Petersburg das Malyj-Theater von Lew Dodin vorerst bis zum 12. Mai schließen, angeblich wegen Mängeln beim Brandschutz und Hygienestandards. Zuvor hatte das Theater Vorstellungen mit dem populären Schauspieler Danila Koslowski absagen müssen, der wegen seiner Antikriegshaltung denunziert worden war. Ebenfalls am Samstag gab die Schriftstellerin und Sängerin Ljudmila Petruschewskaja bekannt, dass ihr für den Siegestag am 9. Mai in Moskau geplantes und ausverkauftes Konzert von den Behörden verboten wurde – offenbar gleichfalls weil die 83 Jahre alte Künstlerin den Krieg ablehnt.